„Alles ist eine einzige Suche“

Alina Wolff und Paul Wilms spielen die Hauptrollen in Vögel von Wajdi Mouawad. Ein Gespräch über die Rückkehr ins Theater und die familiäre Spurensuche ihrer beiden Figuren
Der libanesisch-kanadische Autor Wajdi Mouawad erzählt sein Stück „Vögel“ aus der Perspektive von zwei jungen Menschen. Es sind Eitan, ein Berliner Jude, und Wahida, eine Amerikanerin arabischer Herkunft, die sich ohne Vorbehalte ineinander verlieben. Als Eitans Vater ihre Beziehung radikal ablehnt, befragt der junge Mann seine Herkunft und stößt auf ein Geheimnis. Eine Reise nach Israel versetzt seine Familie in einen Ausnahmezustand. Während Eitan nach einem Terroranschlag im Koma liegt, initiiert Wahida zwischen seinen Verwandten einen Dialog und entdeckt ihre eigene kulturelle Identität ganz neu. All das hat schwerwiegende Folgen. Regie führte Bettina Jahnke, die Premiere war am 11. / 12. September.

Wie fühlt ihr euch, nach der langen Theaterpause wieder auf der Bühne zu spielen?
Alina Wolff: Ich habe regelrecht darauf hingefiebert und merke, wie mir das Training der Vorstellungen fehlte. Es ist schön, sich jetzt das Spielen wieder zurückerobern zu können, auch wenn alles anders ist als gewohnt.

Paul Wilms: Diese neuen Gegebenheiten, wie das Umgehen mit den Abständen, begleiten uns schon sehr. Aber ich glaube, dass es letztlich in dieser Inszenierung sehr gewinnbringend für uns sein kann. Und es ist gut, endlich das soziale Miteinander im Theater zurückzuhaben.

Was interessiert dich ganz persönlich an Wajdi Mouawads Stück?
Wilms: Viele Themen musste ich erstmal an mich heranholen. Ich habe
eine Menge gelesen, recherchiert, Dokumentationen angesehen zum
Judentum, zum Nahostkonflikt, zur Genetik, dem Forschungsgebiet
meiner Figur Eitan. Darüber hinaus finde ich sehr spannend, wie er mit
den großen Disharmonien in seiner Familie umgeht.

Alina, an welchem Punkt kannst du ganz konkret anknüpfen, auch jenseits des Nahostkonflikts, der eine wichtige Hintergrundfolie ist?
Wolff: Ich dachte zuerst, was hat das überhaupt mit mir zu tun? Dann war mir schnell klar, dass sich auch Wahida genau das fragt. Sie will wissen: Wer bin ich und was ist meine Aufgabe? – da knüpfe ich ganz stark an, das beschäftigt auch mich. Überhaupt die Frage: Wie will ich leben? Es ist großartig, wie es dem Autor gelingt zu zeigen, dass alle Figuren in dieser konkreten Familie nach einer Antwort darauf suchen.

Wahida und Eitan lernen sich in einer New Yorker Uni-Bibliothek kennen. Welchen Weg gehen sie?
Wolff: Alles beginnt ganz unbelastet. Sie verlieben sich einfach! Dann geraten sie aber durch die Menschen um sich herum in das größte Chaos, in die größte Katastrophe, die man sich vorstellen kann.

Wilms: Eitan spricht am Anfang vom Big Bang, durch den es vorherbestimmt ist, dass sie sich in diesem Universum begegnen mussten. Danach zoomt es an ein ganz kleinteiliges Geschehen heran. Die beiden müssen sich vielen Dingen stellen, konkrete Entscheidungen fällen. Eitan muss sich verhalten zu dem Erbe, das er von seiner Familie übergeholfen bekommen hat.

Wolff: Beide gehen gemeinsam, aber zugleich ganz individuell mit einer großen Unbedingtheit und Bestimmtheit ihren Weg. Es ist ein Weg des Erwachsenwerdens.

Wie verhält sich Eitan zu dem familiären Erbe, das durch den Holocaust und durch den Kommunismus geprägt ist?
Wilms: Es ist sehr schwer für ihn. Lange versucht er, das alles auszuhalten, aber an einem bestimmten Punkt muss er dagegen angehen. Dann entsteht Protest – er wehrt sich. Dieser Protest hilft ihm zu überleben, sonst würde er kaputtgehen in seiner Familie. Das verstehe ich sehr gut.

Findet Wahida, die amerikanische Doktorandin, zu dem verdrängten Teil ihrer kulturellen Identität?
Wolff: Ich glaube, dass sie erst einmal noch nichts findet. Aber durch die Geschichte in der Familie ihres Freundes und das Kämpfen an seiner statt kommt sie auf eine neue Spur. Sie begreift, dass alles eine einzige Suche ist. Zuerst verwirft sie das Thema ihrer Doktorarbeit. Und damit beginnt bei ihr ein Prozess hin zu der Entscheidung, die Suche nach ihrer eigenen – bisher verleugneten – kulturellen Herkunft, nach ihrem eigenen Kern, zu starten.

Wilms: Toll ist, dass Wahida, obwohl sie diese extremen Konflikte in seiner
Familie miterlebt, dann zu fragen beginnt, was ist eigentlich meine
eigene Familie ...

Ein großes Thema ist das Schweigen. Was bringen beide ein, um das lange Schweigen aufzubrechen?
Wolff: Beide verbindet eine gewisse Verrücktheit – dass er zum Beispiel diese DNA-Tests macht, ist doch völlig verrückt – und eine Form von Rebellion ...

Wilms: ... da ist auch das eingeforderte Recht, als junger Mensch Antworten zu bekommen von den Eltern und Großeltern nach der eigenen Herkunft und der eigenen Identität.

Wolff: Schon ihre Reise nach Israel ist mutig. Hier wollen sie etwas klären und sie kommen mit der Bereitschaft zu reden.

Wilms: Sie starten in all das zuerst ganz rational, beide sind ja Wissenschaftler, er hat auch Fakten in der Hand. Dann tauchen sie zunehmend emotional ein.

Wolff: Während der Freund im Koma liegt, kämpft Wahida als seine Stellvertreterin. Sie lässt nicht locker bei diesen Alten. Sie durchschaut die Barrieren in der Kommunikation, spürt, wo jemand nicht wahrhaftig ist, wo etwas verschwiegen wird. Vielleicht fällt ihr all das leichter, weil sie nicht unmittelbar betroffen ist. So aber bewirkt sie, dass es zumindest bei den Großeltern zu einem Umdenken kommt.

Alles scheint am Ende auseinanderzubrechen. Seht ihr dennoch für die Beziehung der beiden in der Zukunft eine Chance?
Wolff: Vielleicht ja. Wahida und Eitan haben sich immerhin sehr tief in die Seelen geschaut.

Wilms: Beide wollen es besser machen als die älteren Generationen. Auf jeden Fall wird der Weg, den sie in der Zukunft gehen, extrem und sehr entschieden sein.

Wolff: Jetzt wollen beide erstmal ihre eigenen Sachen klären. Das gefällt mir sehr. Und gerade deshalb sehe ich tatsächlich eine Chance, dass sie sich irgendwann wieder treffen.

Interview: Bettina Jantzen

veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 03-2020