Der Spielwütige

Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter" erzählt von Kühnheit, Angst und Aberglaube. Guido Lambrecht spielt den Deichgrafen Hauke Haien.

Energie und Spielfreude: Guido Lambrecht als Hauke Haien
Guido Lambrecht ist neuerdings nah am Wasser gebaut. Seit es ihn im Sommer mit der Familie nach Potsdam verschlug, begleitet ihn das feuchte Element auf Schritt und Tritt: Seine Wohnung liegt nah am Heiligen See, sein Arbeitsplatz, das Hans Otto Theater, grenzt direkt an den Tiefen See, und wenn er in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ die Szene betritt: Wasser, nichts als Wasser – denn in der Inszenierung von Malte Kreutzfeldt ist die Bühne komplett geflutet. Er spielt darin den Flieger Yang Sun und lässt die Figur schillern zwischen Lebensüberdruss, Zartheit und herrischer Gier. Aber er holt sich jedes Mal nasse Füße dabei.

Da verwundert es eigentlich kaum noch, dass bei seiner nächsten Potsdamer Arbeit die Wellen so richtig hoch schlagen. In diesen Tagen beginnen die Proben zu „Der Schimmelreiter“, Theodor Storms Novelle über den Deichgrafen Hauke Haien, der sein Dorf vor dem Hochwasser schützen will und am Ende doch mitsamt seiner Familie in den Fluten der Nordsee versinkt. Lambrecht wird die Titelfigur spielen. Er fand die Rolle „sofort klasse“; nun brennt er darauf, sie zu erkunden und mit all seiner Energie und Spielfreude auszufüllen. Dabei wirkt der gebürtige Dessauer auf den ersten Blick eher wie das Gegenteil dieses stur-schweigsamen Nordfriesen – er ist gesellig, ein guter Erzähler und der Mittelpunkt jeder Tischrunde. Aber dieses Flackern in den Augen, das unterschwellig Fiebrige, Fanatische seines Helden kann man sich bei ihm ebenso vorstellen. Als Schauspieler liebt er die Extreme, Lambrecht kommt sehr über das Körperliche. „Zielorientiert und besessen“, so empfindet er diesen Hauke Haien, wenig empathisch und arrogant. „Da würde ich gern suchen in der Figur“, sagt er nachdenklich, „was ist das?“ Er hat ein Krankheitsbild vor Augen, das Asperger-Syndrom, eine angeborene Kommunikationsstörung. Ihn beschleicht die Ahnung: „Das muss man sehr straight spielen.“

Der Deich als Lebensraum ist ihm nicht fremd, mit dem Hochwasser verbindet er sogar persönliche Erinnerungen. Seine Großeltern lebten in einem Haus bei Dessau, dort, wo Elbe und Mulde zusammenfließen; manchmal stand das Wasser drei, vier Meter hoch am Wall. Als junger Mann jobbte er eine Zeitlang in einer Bar auf der Nordseeinsel Spiekeroog, auch dort war oft Alarm hinterm Deich. Die Mentalität der Insulaner glaubt er seither zu kennen: „Dadurch kann ich viele Bilder innerlich übersetzen und mir die Menschen vorstellen.“

Nun ist er gespannt, worauf die junge Regisseurin Katrin Plötner im Probenprozess den Fokus richten wird. Die gängige Lesart „Mensch vs. Natur“, soviel lässt sie durchblicken, ist es nur am Rande. Plötner interessiert sich mehr für den Konflikt zwischen Aufklärung und Aberglaube, der bei Storm eigentümlich mit dem christlichen Glauben vermischt ist und im „Schimmelreiter“ eine düstere Endzeitstimmung gebiert. Hier verläuft sichtbar auch die Schnittstelle zu unserer angstbesetzten Gegenwart.

„Der Mensch geht grausam mit dem Menschen um. Ich glaube, dass der Deich deshalb bricht.“ Als Katrin Plötner diese Sätze sagt, sind es noch vier Monate bis zur Premiere. Man darf gespannt sein, wie das neunköpfige Ensemble um Guido Lambrecht ihre Fassung auf der Bühne zum Leben erweckt.

Björn Achenbach
veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 01-2019