„Keiner ist freizusprechen“

Mit Shakespeares Der Kaufmann von Venedig feierte am 3. September die erste Neuproduktion seit langer Zeit ihre Premiere im Großen Haus. Darin stehen sich Joachim Berger und Andreas Spaniol als Shylock und Antonio gegenüber. Ein Gespräch über Recht, Rache und Radikalisierung
Kontrahenten Shylock (Joachim Berger), Antonio (rechts: Andreas Spaniol): Gefährliches Spiel um Zugehörigkeit und Ausgrenzung / Foto: Thomas M. Jauk
Für dich, Andreas, ist es die erste Begegnung mit „Der Kaufmann von Venedig“, während du, Joachim, in diesem über 400 Jahre alten Stück schon drei kleine Rollen in einer anderen Inszenierung gespielt hast. Welcher Aspekt ist für euch gegenwärtig besonders spannend?
Joachim Berger: Interessant finde ich, dass hier von einem Menschen erzählt wird, der einer Minderheit angehört und der einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber an einem bestimmten Punkt sagt: Ich fordere mein Recht ein, egal mit welchen Konsequenzen.
Andreas Spaniol: Mich interessiert unter anderem der strukturelle, teils religiös motivierte Rassismus dieser venezianischen Gesellschaft, zu der meine Figur gehört.
Berger: Und es geht um Antisemitismus. Erschreckend aktuell. Vor allem durch das Attentat in Halle.

Ihr verkörpert zwei Figuren, die in einen extremen Konflikt geraten. Wer ist eigentlich „Der Kaufmann von Venedig“?
Spaniol: Das ist Antonio, den ich spiele. Ein reicher Geschäftsmann aus der venezianischen Oberschicht. Ein risikobereiter Mensch. Sein Freund Bassanio, zu dem er ein nicht gelebtes homoerotisches Verhältnis hat, bittet ihn um Geld. Antonio ist aber gerade nicht solvent, da er alles in Unternehmungen investiert hat. Alle Schiffe sind gleichzeitig auf See. Interessanterweise leiht ihm niemand aus seinem Umfeld Geld. Also muss er zu Shylock, dem Juden, den er als „Wucherer“ verachtet.
Berger: Shylock, die Figur, die ich spiele, ist ein jüdischer Geldverleiher. Zwar ist er Teil der venezianischen Gesellschaft, als Jude aber nicht im Besitz aller Grundrechte. Und während es Christen damals verboten war, Zinsen zu nehmen, gehörte das Geldverleihen zu den wenigen Geschäften, die Juden betreiben durften. Zinsen stellen die Grundlage von Shylocks ökonomischer Existenz dar. Über den geschäftlichen Kontakt mit Antonio, aus Shylocks Sicht einer der Vertreter der venezianischen Leitkultur, erhofft sich Shylock möglicherweise eine andere Form der Teilhabe. Auch wenn die beiden eine sehr schwierige Vorgeschichte haben.

Warum vereinbaren sie diesen sonderbaren Schuldschein?
Berger: Shylock verzichtet auf Zinsen, zu eigenen Ungunsten. Stattdessen schlägt er vor, als Strafe, im Fall der nicht fristgerechten Rückzahlung des geliehenen Geldes, ein Pfund von Antonios Fleisch zu bekommen. Da er zu dem Zeitpunkt nicht davon ausgeht, dass er das Pfand je einfordern wird, hat das Ganze für mich etwas von einem kruden Witz, etwas Spielerisches, fast Zärtliches.
Spaniol: Antonio ist in der Position des Bittstellers und versucht seinen „Hochstatus“ zu verteidigen. Würde er diesen sonderbaren Handel nicht eingehen, käme das einem Gesichtsverlust gleich. Er geht natürlich davon aus, dass er den Schuldschein rechtzeitig bedienen wird.
Berger: Erstaunlich ist, dass Shylock bei der Festsetzung des Pfands ein Stück weit mit den antisemitischen Stereotypen der venezianischen Gesellschaft spielt. Der Jude, der dem Christen ans Leder will, sehr salopp gesagt. Es gab die Vorstellung, Juden würden mit Christenblut Matzen backen.

Es sind also zwei Spieler, die sich da begegnen …
Berger: In diesem Moment, ja. Und es entsteht eine gewisse Nähe zwischen den beiden Männern.
Spaniol: Wobei Shylock Antonio durch diesen Handel definitiv zu nah tritt.

Gegen Shylock finden von verschiedenen Seiten antisemitische Angriffe statt. Wie geht ihr damit um?
Spaniol: In Bezug zur Figur Antonio finde ich wichtig zu zeigen, dass er – auch wenn er später in eine Opferrolle gerät – Teil einer zutiefst rassistischen Täter-Gesellschaft ist. Dass er davon profitiert und letztlich auch Shylocks Geschäfte torpediert, wo immer er es kann.
Berger: Shylock radikalisiert sich im Verlauf des Stückes. Und das ist für mich absolut nachvollziehbar. Ein entscheidender Auslöser ist dabei der Verlust seiner Tochter, die ihn für einen Christen verlässt. Er fühlt sich von allen verraten. Ihm bleibt nur noch der Schuldschein. Und das Postulat: Der Staat garantiert mein Recht. Aber wie sich am Ende herausstellt – auch das gilt nicht für den Juden.
Spaniol: Keiner ist freizusprechen. Radikal verhält sich auch Antonio. Zuvor noch appelliert er an Shylocks Menschlichkeit. Im nächsten Moment, mit heiler Haut davongekommen, fügt er ihm die maximale Demütigung zu.
Berger: Es gibt da diesen Shylock-Monolog, mit dem Shakespeare einen emanzipatorischen Text für eine jüdische Figur geschrieben hat. Den ersten in der europäischen Dramenliteratur. Shylock sagt, dass er sich als Jude, als Mensch, durch nichts unterscheidet von den anderen, dass ihm also die gleichen Rechte zustehen müssen wie allen – auch das Recht auf Rache. Ein genialer Text.

Gäbe es eine Alternative zur Unversöhnlichkeit ihres Konflikts?
Spaniol: Schwierig, unter diesen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Mit dem anderen Teil der Handlung, der Brautwerbung von Bassanio bei Portia, verstrickt sich alles zu einem unlösbaren Knoten. Und am Ende liegt ein kollektives Scheitern in der Luft.
Berger: Für mich gibt es einen Punkt, der beide verbindet – das Ungeliebtsein. Shylock, der Jude, ist ungeliebt von der venezianischen Gesellschaft. Antonio ist ungeliebt von Bassanio.
Spaniol: Am Ende sind beide allein.
Berger: Beide bleiben beschädigt und isoliert zurück, wenn auch in sehr unterschiedlichen Graden.

Es findet also keiner aus dieser verfahrenen Geschichte heraus?
Berger: Da kommt nur das Publikum raus.

Inwiefern?
Berger: Indem es sich die Geschichte ansieht und vielleicht versteht.
Spaniol: Wenn sich eine Gesellschaft durch Abgrenzung und Ausgrenzung definiert, wie hier von Shakespeare beschrieben, ist das Ursache für viel Übles. Ausgrenzung ist Gewalt und führt nicht selten zu noch mehr Gewalt.

Interview: Bettina Jantzen

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