Die Krone der Schöpfung – das Schwein, der Mensch

Dramaturg Christopher Hanf mit Gedanken zum Stück „Woyzeck“
„Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst“, heißt es in Büchners „Dantons Tod“. Der Autor und sein Protagonist ringen an dieser Stelle mit der Frage, ob es in der Macht der Einzelnen stehe, selbstbestimmt zu handeln und sich gegenüber dem „grässlichen Fatalismus der Geschichte“ (wie Büchner es in einem Brief ausdrückt) zu behaupten. In seinem „Woyzeck“, etwa anderthalb Jahre später entstanden, bleibt der Befund ähnlich düster. Doch hier sind es keine „unbekannten Gewalten“, die wie Marionettenfäden an Menschen zerren und ihr Handeln determinieren, sondern ganz konkrete gesellschaftliche Strukturen.

Die Grundlage des Stücks bildet ein Fall aus der Wirklichkeit: Im Jahr 1821 hatte der arbeits- und obdachlose, unter Wahnvorstellungen leidendende Johann Christian Woyzeck seine Geliebte aus Eifersucht erstochen. In psychiatrischen Gutachten sollte ermittelt werden, ob der Täter zurechnungs- und damit schuldfähig sei. Das Urteil damals lautete: schuldig. Der historische Woyzeck wurde 1824 öffentlich hingerichtet.

Dieser Stoff musste Büchner interessieren, enthält er doch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen autonom agieren können. Als Autor rückt Büchner den Fall in ein neues Licht. Er fordert uns auf, genauer hinzuschauen: Welche spezifischen Umstände haben den Täter zu seiner Tat getrieben? Hatte er eine Wahl? Anders als der wirkliche Woyzeck steckt Büchners Protagonist in einem Korsett extremer Armut und Arbeitsbelastung. Der Text entwirft ein konkretes Bild seiner unmenschlichen, demütigenden Arbeitsbedingungen. Büchner blickt also aus der Perspektive des Mitleids auf seinen Anti-Helden. Wobei: das Opfer dieser Geschichte ist zuallererst Marie, die brutal erstochen wird. Ihr vor allem sollte unser Mitgefühl gehören. Das sehen wir heute klarer als Büchner und seine Zeitgenossen. Aber es bleibt offensichtlich, wo der Autor die wahren Schuldigen dieser Tragödie verortet: Es sind die Vertreter einer ungerechten, ausbeuterischen und kaltherzigen Gesellschaftsordnung, die den Menschen Woyzeck zerstören, ihn dazu bringen, misogyne Muster zu reproduzieren und ausgerechnet das zu töten, was er liebt. Insofern sind beide – Marie und Woyzeck – als Opfer einer zerstörerischen, patriarchalen Gesellschaft zu begreifen.

Doch das Stück enthält neben der sozialrevolutionären Anklage noch weitere Dimensionen. Wie ein Anatom interessiert sich Büchner dafür, die ‚eigentliche‘ Natur des Menschen freizulegen. Wo auf der Skala zwischen den Polen Geist und Materie, zwischen seelenvoller Vernunft und triebgesteuertem Egoismus wäre unsere Spezies anzusiedeln? Der Dichter Gottfried Benn brachte diese dialektische Spannung lakonisch auf den Punkt: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.“ Was Büchner mit seinem Skalpell herauspräpariert, gibt denn auch wenig Anlass zu Optimismus. Der Ausrufer vom Jahrmarkt jedenfalls stellt ketzerisch in Frage, ob denn der Mensch mehr sei als „Staub, Sand, Dreck“. Dementsprechend ergibt das Stück auch von seiner Form her kein sinnvolles, stimmiges oder schönes Ganzes. Der Text, der durch Büchners frühen Tod Fragment geblieben und nur in schwer lesbaren Entwurfsstufen überliefert ist, gleicht einer Collage unterschiedlicher Versatzstücke, durchquert von Brüchen und Abbrüchen. Er besteht aus angerissenen Dialogsequenzen, dokumentarischen Passagen, Spruchweisheiten (wie sie u.a. betrunkene Machos gern abfeuern), Gedichten, Liedern, Tanzszenen usw. Elemente von Tragik und Leid treffen hart auf solche des Burlesken, Grotesken, der Karikatur und Satire. Büchner verwendet viele Splitter aus der Realität, ist aber nicht auf Realismus aus. Im Gegenteil: Der Weg durch dieses Stück gleicht eher einem surrealen Trip, einer Geisterbahnfahrt.

Dramengeschichtlich revolutionär ist auch, dass Büchner seinen Figuren zumeist eine dialektal gefärbte Alltagssprache in den Mund legt. Wäre der „Woyzeck“ zu Büchners Gegenwart uraufgeführt worden und nicht erst 76 Jahre später, hätten seine Zeitgenossen den Eindruck gehabt: Diese Figuren sprechen ja wie normale Menschen und nicht in Jamben wie noch bei Goethe oder Schiller. Um diesen Effekt auch für ein heutiges Publikum zu bewahren, haben wir in unserer Fassung versucht, den Text sprachlich in unsere Gegenwart zu holen und mit heutiger Wirklichkeit aufzuladen. Charakteristisch für Büchners Umgang mit Sprache ist aber insbesondere, dass sie hier keine gelingende Kommunikation ermöglicht. Vor allem Woyzeck, der verzweifelt darum ringt, sich mitzuteilen, verfügt nicht über die richtigen Worte dafür. So schafft er es nicht, den Abgrund zu den anderen zu überwinden – und bleibt ganz allein.

Christopher Hanf

Georg Büchner: Ein Sozialrevolutionär.

Ausschnitte aus dem Hessischen Landboten
Während seines Studiums in Gießen kam Büchner mit sozialrevolutionären Zellen in Verbindung, die den Kampf gegen Feudalismus, polizeistaatliche Repressionen und soziale Ungerechtigkeit aufgenommen hatten. Gemeinsam mit Friedrich Ludwig Weidig verfasste er 1834 das Flugblatt „Der hessische Landbote“, das eine scharfe Anklage gegen die herrschenden sozialen Missstände formuliert. Nachdem einige Exemplare des Flugblatts verteilt worden waren und die Geheimpolizei Büchner als Mitverfasser ausgemacht hatte, wurde er steckbrieflich gesucht. Hier ein kleiner Auszug aus dem Hessische Landboten:

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. (…) Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brod an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinigen Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rath schaffen will, und durch die geöffneten Glastüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert.

„Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“

Ausschnitte aus Briefen Georg Büchners

In Briefen, die von Georg Büchner überliefert sind, kommt eine entschiedene Wut gegen die herrschende soziale Ungerechtigkeit zum Ausdruck – aber auch Mitleid mit den Ausgebeuteten sowie das verzweifelte Gefühl, ohnmächtig gegenüber den Umständen zu sein. Hier einige Auszüge aus Büchners Briefen:

5. April 33. An die Eltern
Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen, wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um dem ewigen Maulaffen Volk seine zu eng geschnürte Wickelschnur vergessen zu machen. Es ist eine blecherne Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur ein Deutscher die Abgeschmacktheit begehen konnte, Soldatchens zu spielen. Unsere Landstände sind eine Satire auf die gesunde Vernunft, wir können noch ein Säkulum damit herumziehen, und wenn wir die Resultate dann zusammennehmen, so hat das Volk die schönen Reden seiner Vertreter noch immer teurer bezahlt, als der römische Kaiser, der seinem Hofpoeten für zwei gebrochene Verse 20,000 Gulden geben ließ.

Januar 1834. An die Braut
Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.

16.2.34. An die Braut
Meine Freunde verlassen mich, wir schreien uns wie Taube einander in die Ohren; ich wollte, wir wären stumm, dann könnten wir uns doch nur ansehen, und in neuen Zeiten kann ich kaum Jemand starr anblicken, ohne daß mir die Tränen kämen. Es ist dies eine Augenwassersucht, die auch beim Starrsehen oft vorkommt.

8.3.34. An die Braut
Ich erschrak vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle Menschen machten mir das hypokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah, – ich verfluchte das Concert, den Kasten, die Melodie und – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter, weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt?
Ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell wird. Alles verzehrt sich in mir selbst; hätte ich einen Weg für mein Inneres, aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit. Dies Stummsein ist meine Verdammnis.

21.2.35. An Karl Gutzkow
Vielleicht hat es Ihnen die Beobachtung, vielleicht, im unglücklicheren Fall, die eigne Erfahrung schon gesagt, daß es einen Grad von Elend gibt, welcher jede Rücksicht vergessen und jedes Gefühl verstummen macht. Es gibt zwar Leute, welche behaupten, man solle sich in einem solchen Falle lieber zur Welt hinaushungern, aber ich könnte die Widerlegung in einem seit Kurzem erblindeten Hauptmann von der Gasse aufgreifen, welcher erklärt, er würde sich totschießen, wenn er nicht gezwungen sei, seiner Familie durch sein Leben seine Besoldung zu erhalten. Das ist entsetzlich. Sie werden wohl einsehen, daß es ähnliche Verhältnisse geben kann, die Einen verhindern, seinen Leib zum Notanker zu machen, um ihn von dem Wrack dieser Welt in das Wasser zu werfen.

18. Juli. 1835 An die Eltern
Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. wahrhaft ästhetische Kritik mit Dank annehmen.


1.1.36. An die Eltern
Ich komme vom Christkindelmarkt, überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.

WEITERFÜHRENDE LINKS

Das Büchnerportal bietet ausführliche Informationen zu Büchners Leben sowie die Möglichkeit, auf alle Texte und Briefe Büchners zuzugreifen.
Woyzecks Wahnvorstellungen sind eine Folge der Erbsendiät, die er im Zuge der Menschenversuche des Doktors durchführen muss. Büchner greift in seiner dichterischen Gestaltung auf realhistorische Menschenversuche zurück, denen er während seines Studiums in Gießen begegnet ist.
Woyzeck und seine kleine Familie leben in großer Armut. Heutige Studien zeigen, dass Armut negative Folgen für die psychische Gesundheit von Menschen haben kann.
Für seine Arbeitgeber ist Woyzeck nur ein Objekt, dessen persönliches Schicksal sie in keiner Weise interessiert. Dienstleister*innen, die heute im modernen Dienstleistungssektor tätig sind, haben auch das Gefühl, als einzelne Person nicht von Belang zu sein für das Unternehmen, in dem sie arbeiten.
Für Woyzeck bedeutet es eine traumatisierende Belastung, dass er keinerlei Anerkennung für seine Arbeit bekommt. Er muss in einem für ihn schwer durchschaubaren Räderwerk funktionieren, ohne Halt in festen gemeinschaftlichen Strukturen zu finden. Nicht zuletzt leiden auch Paketboten von heute unter Stress, Kontrolle, hoher körperlicher Belastung und fehlender Anerkennung.
Eine eindrückliche Fernseh-Doku beschreibt die überfordernden, demütigenden und sozial ungerechten Arbeitsbedingungen von heutigen Paketboten.