Interview mit Lhakpa Tsering

Tibetisches Theater im Exil will die eigene Kultur lebendig halten

Wir freuen uns sehr, dass wir kurz vor der „Pah-Lak“-Tour in Europe dieses Interview mit dir führen können, und würden gerne mehr über dich und deinen Weg erfahren.
Mit neun Jahren floh ich von Tibet nach Indien, um meinen Stiefvater zu entkommen, der mich misshandelte. Vermutlich war ich damals der erste Tibeter, der die Grenze überquerte und dachte, dass Inder Feinde seien. Das hatte uns die chinesische Grenzarmee immer erzählt.
Während meines vierjährigen Studiums in Bangalore habe ich mich an der Organisation von Aktionen beteiligt, die den wahrhaftigen politischen und sozialen Kampf um Tibet unterstützten. Als 2006 der chinesische Präsident Hu Jintao die indische Stadt Mumbai besuchte, zündete ich mich aus Protest an, um der Welt und den internationalen Medien die Notlage der Tibeter vor Augen zu führen, und war dabei relativ erfolgreich.
2010 übernahm ich für ein Jahr die Leitung der Organisation „Volunteer for Tibet“. Wir unterrichteten Tibeter, die nicht das Privileg einer Ausbildung hatten, in verschiedenen Sprachen. Außerdem stellten wir finanzielle Unterstützung und Bildungsstipendien bereit für Studenten, die sich ein Studium nicht leisten konnten.

Wie hat sich dein Interesse an politischen Aktivismus entwickelt? Und wie hast du versucht, dich für Tibet einzusetzen?
Solange ich in Tibet war, wusste ich nicht, dass Tibet ein besetztes Land ist. In unserem Dorf und Bezirk gab es keine Mönche und Nonnen. Nachdem ich in Indien angekommen war und alles über Tibet erfahren hatte, fühlte ich mich wie ein „echter Tibeter“ und begann, mich m ehr und mehr für den Kampf und den Aktivismus zu interessieren.

Kannst du dich erinnern, wann du zum ersten Mal mit Theater in Berührung gekommen bist?
Während meiner Arbeit im Tibetan Youth Congress habe ich einige Bücher über die Freiheitskämpfe in anderen Ländern gelesen, und in vielen von ihnen wurde Theater als Mittel zur Stärkung der Einheit, zur Wahrung der Identität und zur Förderung der Anliegen eingesetzt. Als Freiheitskämpfer fiel mir auf, dass uns das in unserer Bewegung bisher fehlte, und so beschloss ich, eine tibetanische Theatergruppe zu gründen, ohne dass ich einen Theaterhintergrund hatte.


Welche Rolle spielt das Theater in der tibetischen Kultur?
Wir Tibetaner haben sehr alte Theatertraditionen, um unsere Kultur dazustellen. Es gibt die tibetanische Oper, eine Art Stand Up Comedy und religiöse Darbietungen. Aber das zeitgenössische Theater ist wie ein neugeborenes Baby in unserer Exilgesellschaft, das gerade erst wächst.

Wann hast du das „Tibet Theatre“ gegründet, und wie sahen sie Anfänge aus?
Im Jahr 2011 gründete ich mit einigen meiner Freunde eine dringend benötigte tibetische Theatergruppe, das „Tibet Theatre“, das die kulturellen und sozialen Bedürfnisse der tibetischen Gemeinschaft befriedigte. Da wir alle aus Tibet kamen, hatten wir zu Beginn viele finanzielle Probleme, um die Gruppe zu leiten. Obwohl wir mit unerklärlichen und unvorhergesehenen Schwierigkeiten konfrontiert wurden, haben wir uns bemüht, unsere Missionen zu erfüllen, das kulturelle Bewusstsein durch unsere Theaterfähigkeiten in die Öffentlichkeit zu tragen.

Was war das Ziel eurer Gruppe?
Als „Tibet Theatre“ wollten wir durch die Gründung einer „Volkstheaters“ ein sicheres Umfeld bieten, in dem Meinungs- und Redefreiheit nicht nur wertgeschätzt, sondern auch gefördert würde, in dem das Bewusstsein für den tibetanischen Kampf sowohl innerhalb als auch außerhalb der Exilgemeinschaften geschärft wird und in dem wir Reichtum und die Vielfalt der tibetischen Kulturdurch Originalstücke präsentieren. Unser Ziel war es, eine Plattform für künstlerische Talente (tibetischer Jugendlicher und Erwachsener) aufzubauen, um damit das kreative Denken innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft zu fördern. Aber auch jeden Einzelnen versuchten wir hervorzuheben, zu erleuchten, zu bilden, zu fördern und zu stärken. Das „Tibet Theatre“ sollte den Zusammenhalt und die Einheit der Gemeinschaft fördern und den Nationalstolz wecken, insbesondere bei jungen tibetischen Flüchtlingen.

Wie bist du auf die Idee gekommen, das Stück „Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar zusammen mit dem Theaterregisseur Harry Fuhrmann neu zu inszenieren? Kannst du uns etwas über den Prozess erzählen?
„Pah-Lak“ hatte seine englischsprachige Premiere 2019 im Royal Court Theatre in London gehabt. Nach dieser Aufführung wollte Abhishek das Stück unbedingt in tibetischer Sprache und von tibetischen Schauspielern inszenieren lassen. Er war etwas verärgert über die Theateraufführung in London, da das Ensemble keine tibetischen Schauspieler hatte. Also haben wir beide zuerst über die Übersetzung ins Tibetische diskutiert. Im März 2020 beschloss ich dann, das Stück zu übersetzen.
Danach machten wir beide uns im Juli Gedanken darüber, wie wir einen guten Regisseur finden könnten. Nachdem Abhishek das Thema angesprochen hatte, fiel mir Harry ein. Denn 2018 hatte ich mit ihm beim Tibetan Institute of Performig Arts (TIPA) zusammengearbeitet. Also habe ich Harry zu unserem Plan angefragt, und er war von Anfang an sehr glücklich darüber und bat mich, ihm das Skript zu schicken. Nachdem er das Skript gelesen hatte, war Harry noch glücklicher und motiviert, ehrenamtlich mit mir zusammenzuarbeiten. Er übernahm dann die Hauptverantwortung für die Umsetzung dieses Projektes. Ich möchte mich wirklich von ganzen Herzen bei Harry bedanken, dass er die Gelegenheit ergriffen hat, sein Engagement und seine Liebe zu Tibet zu zeigen.

„Pah-Lak“ ist ein sehr politisches Stück, das sich mit dem sensiblen Thema der Selbstverbrennungen in Tibet befasst. Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, diesem Thema eine Bühne zugeben?
„Pah-Lak“ basiert auf den wahren Geschichten vieler Tibeter in Tibet, die aufgrund der chinesischen Wirtschaftsmacht von allen Nationen der Welt ignoriert werden. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Zukunft der Gewaltlosigkeit. Viele Menschen in der Welt denken, Selbstverbrennung sei ein gewalttätiger Akt. Dieses Stück zeigt, dass das Opfern des eigenen Körpers zum Wohlergehen anderer in der buddhistischen Philosophie die höchste Stufe von Gewaltlosigkeit darstellt.

Bei dem Projekt bist du nicht nur als Übersetzer und als Co-Regisseur tätig gewesen, sondern du spielst auch die Rolle des chinesischen Offiziers Deng. Wie ist es für dich, sich in diese Rolle zu versetzen?
Als Tibeter kennen wir viele wahre und brutale Geschichten aus Erzählungen und von Bildern, wie Chinesen Tibeter in Tibet behandeln. Für mich war es also kein großes Problem, die Rolle zu entwickeln. Ich nehme diese Rolle als chinesischer Offizier selbst nicht an, sondern möchte der Welt damit zeigen, wir brutal chinesische Offiziere unter der Herrschaft der KPCh sind, indem ich ein tibetisches Opfer bin.

Die Premiere des Stückes fand am 1. Oktober 2022 in Dharamsala statt. Wie war es für dich, dieses Projekt nach jahrelangen Vorbereitungen der Öffentlichkeit vorzustellen, und wie hat die tibetische Gemeinschaft darauf reagiert?
Für mich war es wirklich wie ein Traum, der nach 11 Jahren tibetischem Theater endlich wahr wurde, und ich bin stolz auf mich und meine Frau (auch Teil des Ensembles), die härter gearbeitet hat als ich, um dieses Projekt zum Erfolg zu führen. Darüber hinaus war die Reaktion der tibetischen Gemeinschaft so stark und unterstützend, wie ich es noch nie bei einem Kulturprogramm erlebt habe. Die Aufführungen der Nordindien-Tour waren sehr erfolgreich, und wir planen, im März 2023 das Stück in drei südindischen Städten und in den zwei größten tibetischen Siedlungen aufzuführen.

Im Mai 2023 wird das Ensemble nach Deutschland und in die Schweiz kommen und das Stück an mehreren renommierten Theatern als Gastspiel aufführen. Was erhoffst du dir von de Tournee?
Meine größte Hoffnung ist, durch das Stück ein größtmögliches Bewusstsein für die aktuelle Situation der Tibeter in Tibet zu schaffen und mehr und mehr Unterstützung in Sachen Tibet von den Bürgern westlicher Länder zu erhalten.

Welche Botschaft möchtest du den Zuschauern mit auf den Weg geben?
Dieses Stück beruht auf den wahren Geschichten vieler Tibeter, die sich tagtäglich in Tibet abspielen. Ich bitte die Zuschauer, uns dabei zu unterstützen, die Flammen der Selbstverbrennungen in die dunklen Räume der führenden Politiker der Welt zu bringen, ihnen das Leiden der Tibeter zu zeigen und sie den Geruch der brennenden Blitze der Gewaltlosigkeit spüren zu lassen.

Was wünschst du dir für die Zukunft?
Wir haben viele Pläne für das „Tibet Theatre“: Unsere Vision ist, das „Pah-Lak“-Theaterstück in den nächsten Jahren in noch mehr Ländern von Europa, Nordamerika und Australien zu zeigen. Es soll weltweit möglichst viele Menschen erreichen und auf die aktuelle Situation in Tibet aufmerksam machen. Außerdem verfolgen wir am „Tibet Theatre“ eigene Theaterprojekte, wie die Entwicklung von Stücken über Umweltfragen, die soziale Entwicklung und wie wir die tibetische Kultur erhalten können. Unser methodisches Hauptziel bei all dem ist, mehr mit tibetischen Kindern im Exil zu arbeiten.

Tenzyn Zöchbauer

Erschienen in BRENNPUNKT TIBET (01/2023)