Wer ist hier der Held?

Liebe, Verrat, Rache und Mord: In seinem Stück Nibelungenleader entdeckt der Autor Kristo Šagor den deutschen Mythos neu – für junge und junggebliebene Menschen
Ein strahlender Held? – Jakob Schmidt als Siegfried in „Nibelungenleader“
Das Nibelungenlied zählt zu jenen Geschichten, von denen wir denken, sie seien auserzählt, da wir sie zu kennen glauben. Jede*r hat doch schon von Siegfried gehört, dem Helden, der im Blut des Drachen badete, um unverwundbar zu werden – hätte nicht ein einzelnes Lindenblatt genau dies verhindert. Wir wissen, dass er wahrscheinlich ein gutes Leben am Wormser Hof gehabt hätte, wenn er gegenüber seiner großen Liebe Kriemhild den Mund darüber gehalten hätte, was in der Hochzeitsnacht von Gunther und Brynhild tatsächlich vorgefallen ist. Hätte, hätte, hätte …

Was also erzählt uns das Epos heute noch? Vielleicht, dass Siegfried nicht der strahlende Held war, sondern ein naives Kind, das an den Fallstricken des Hofes scheiterte? Doch was genau ist denn ein Held oder eine Heldin? Oft ist es jemand, der durch mutiges und moralisches Handeln eine Vorbildfunktion einnimmt. Meist besitzt er oder sie übermenschliche Kräfte. Stärke und Mut zeichnen Siegfried gewiss aus, aber moralisch handelt er an keiner Stelle des Epos. Im Gegenteil, erst sein Handeln besiegelt sein unheilvolles Schicksal. Doch wenn er nicht der Held der Geschichte ist, wer ist es dann? Wer ist Opfer, wer Täter oder Täterin und wer wirklich heldenhaft? All diesen Fragen spürt auf der Bühne der Reithalle ein fünfköpfiges Ensemble nach. Siegfried, Gunther, Kriemhild, Hagen und Brynhild sind die Figuren, die der Autor Kristo Šagor zu Wort kommen lässt und die sich an dem bekannten Menschheitsmythos über Liebe, Verrat, Rache und Mord abarbeiten. Denn sie alle tragen dazu bei, dass die Geschichte ausgeht, wie sie ausgeht.

Kristo Šagor hat mit „Nibelungenleader“ seine ganz eigene Version der Geschichte für junge Menschen ab 13 Jahren geschrieben. Sie schaut aus unserer Gegenwart auf die Geschehnisse und hinterfragt die ursprünglichen Rollen- und Geschlechterbilder. Was ist ein König? Was eine Königin? Was ist Macht? Was ist Liebe? Und was bitte ist ein Drache? Dadurch, dass die Schauspieler*innen das Epos erzählen, in es eintauchen und aus ihm heraustreten, um es aus dem Jetzt zu betrachten und darüber zu sprechen, entstehen neue Aspekte, die die Ereignisse auch mal augenzwinkernd beleuchten.

So könnte es gelingen, auch Jugendliche für den Stoff zu begeistern. Denn der Theaterabend zeigt, dass uns das Nibelungenlied auch heute noch einiges zu erzählen hat und vor allem dazu anregt, über eigene Held*innenbilder nachzudenken.

Alexandra Engelmann

erschienen in: ZUGABE 04-2022

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Das Nibelungenlied entstand vermutlich zwischen 1198 und 1204 im Donauraum. Mehr darüber gibt es hier.
Das Nibelungenlied ist eine Geschichte der Extreme aus einer Welt, in der Ehre alles gilt. Michael Sommer und sein großes Playmobilensemble fassen in „Sommers Weltliteratur to go“ das Schicksal von Siegfried, Kriemhild und Co. kompakt und kurzweilig zusammen.
Holger Zabrowski ist Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik. In dem folgenden Essay macht er sich Gedanken über die Zukunft der Helden.