„… alle Fragen offen“

Sezuan ist ein Kaleidoskop menschlichen Verhaltens, zeitlos, in dem wir alles finden: Gutes und Böses, viel dazwischen, die allzu menschliche Suche nach Liebe, Verbindung und den unbändigen Überlebenswillen, trotzwidriger Lebensumstände. Auf der Potsdamer Bühne sehen wir Alina Wolff im Zentrum des Geschehens, die als Schauspielerin die Figur der Shen Te erforscht, ihre Grenzen auslotet – und deren Rolle wiederum die Figur Shui Ta erschafft, weil sie glaubt, nicht anders überleben zu können. In der Inszenierung braucht Shen Te als Shui Ta schlussendlich nicht einmal mehr einen Bart zur Verkleidung. Die sie umgebende Gesellschaft projiziert Shui Ta auf ihren Körper. Projektionen zu erfüllen, das hat Shen Te in ihrem früheren Leben als Prostituierte gelernt. Sie kam ihren Freiern nahe, kannte deren Wünsche und Abgründe wie niemand anders, und ist gewohnt, zu dem zu werden, was andere in ihr sehen. Es ist nicht verwunderlich, dass Shui Ta von den Bewohner*innen Sezuans schließlich angeklagt wird, Shen Te, die Gute (in ihr), getötet zu haben, ausklammernd, welchen Anteil sie selbst an der Verwandlung haben.

Schubladen und Raster – wie beispielsweise die Zuordnung zu Gut und Böse als gesellschaftlich-konstruierte Faktoren – scheinen die Welt auf der Bühne und im „realen“ Leben überschaubarer zu gestalten, Gruppenzugehörigkeit und Ausschluss begründend. Alle Menschen tragen jedoch Anteile von Gut und Böse in sich, die sich in verschiedenen Aspekten ihres Lebens offenbaren.

Vor den drei Göttern, sowohl als äußere als auch innere Instanz, kann sich Shen Te zum Schluss des Stücks unverstellt zeigen. Aber haben die Götter Shen Te nicht ebenfalls mit ihrem Obolus nur zur Erfüllung ihres eigenen Auftrags die Rolle des „guten Menschen“ aufgezwungen? Sie zur Projektionsfläche degradiert, die so ihre eigenen Wünsche in den Hintergrund stellen muss? Shen Te sieht sich in einem dauerhaft moralischen Dilemma. Verhilft sie beispielsweise ihrem Geliebten, dem Flieger, zu einer für ihn lebbaren Zukunft, basiert dies auf der Ausnutzung und Zerstörung der Lebensgrundlage vieler anderer. Die ihr auferlegte Rolle „zerriß[sie] wie ein Blitz in zwei Hälften“, die nicht miteinander verbunden werden können. Ob dies für sie traumatisch ist, sie Teile ihrer Persönlichkeit ausleben kann oder eine gesellschaftliche Rolle spielt, bleibt offen.

Wir Zuschauer*innen spielen mit im (Welt-)Theater, umgeben von Menschen, die uns auch unsichtbar beeinflussen: die Vor-uns-Geborenen, die eine konstruierte Welt hinterließen, und die Noch-Nicht-Geborenen, deren zukünftige Welt wir gestalten. Jede Entscheidung oder auch Nicht-Entscheidung hat Folgen. Wir leben, also sind wir Teil dieser Welt, beeinflussen sie. Unserer Verantwortung und unserer Rolle in diesem Welt-Theater können wir uns nicht entziehen und wir sollten uns dabei nicht von einer Komplexität abschrecken lassen. Der Schluss des Welt-Theaters endet erst für uns Menschen, wenn wir auf dieser Welt aufhören zu existieren. Solange noch Fragen offenbleiben, gibt es Möglichkeiten der Entwicklung und Gestaltung zum Besseren.

Natalie Driemeyer