Gesellschaftsspiel: Macht oder Liebe

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, lautet die Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. In Potsdam beginnt die Inszenierung von Tobias Rott zunächst mit jenem Ideal. Alle Personen auf der Bühne tanzen – frei, gleich, geschwisterlich. Alle Optionen scheinen vorhanden. Doch plötzlich, unerwartet, verändert sich diese freie Welt, drängt die Personen in die für sie vermeintlich vorgesehene Ecke, trennt sie in Machthaber*innen und Untergebene. Die Tore schließen sich und das Gesellschaftsspiel beginnt. Jenes Spiel, in dem die Herkunft, das Geschlecht und der soziale Status über Exklusion und Inklusion entscheiden. Transgenerationales Erbe beeinflusst das Schicksal der Kinder – nicht nur psychisch, sondern auch materiell. Der Mensch ist nicht frei, stattdessen von Geburt an fest eingebunden in ein Netz aus Erwartungen, Zielen und Machtspielen. Von der nächsten Generation wird als „Schuldbrief der kindlichen Pflicht“ (Ferdinand) die Erhaltung der bestehenden Systeme gefordert. Wenn Luise und Ferdinand die Grenzen überwinden, stellt dies die vorhandenen Machstrukturen in Frage, lässt sie fragil und somit veränderbar erscheinen. So bringt die romantische Idee von Liebe beider die gesellschaftlich konstruierte und dargestellte Welt ins Wanken. 

Schiller zeichnet die Zugehörigkeit und Herkunft der Figuren sehr genau über die Sprache. Ihre Dialekte und die Fähigkeit zur korrekten Verwendung französischer Begriffe manifestieren Ausschluss und Zugehörigkeit, Redeanteile zeugen von Macht und Unterwerfung, Sprechhandlungen werden zu Akten der Gewalt. Worte bedrängen, erschlagen, beleidigen, bedrohen, manipulieren … Angst dient als zentraler Motor, der die Kraft freisetzt, über moralische und gesetzliche Grenzen hinweg die Machtinteressen (vergleiche Putin, Erdoğan und Trump) zu manifestieren. Wenn die Macht sich physisch gegen den Körper des Gegenübers richten muss, bis zur Entscheidung über Leben und Tod, fürchtet sie bereits um ihre Position. Der Körper wird zum Gegenstand des Politischen. 

Die Liebenden Luise und Ferdinand rennen gegen Mauern an und geraten immer mehr in die Spirale der Intrigen. Luise wird zur Projektionsfläche vieler Interessen. Panik lässt in ihr alle Hoffnungen schwinden. Die Ereignisse überrollen sie, bis sie nicht mehr agieren, sondern ausschließlich reagieren kann. Unterwerfung scheint das einzige Mittel, der Gewalt zu entkommen. 

„Kabale und Liebe“ ist ein Psychodrama, das viel über die negative Seite der Menschheitsgeschichte erzählt, in der das Vermächtnis die Weitergabe von Gewalt, Vorurteilen und Traumata ist. Doch dies ist kein Schicksal: Jede Generation hat erneut die Entscheidungsmacht, den Mitmenschen die Freiheit, Würde und Rechte zuzugestehen, sich für die Einhaltung derer einzusetzen und „Schranken des Unterschieds ein[zu]stürzen“ (Luise). Die Hoffnung bleibt, dass sich bestehende Systeme sprengen lassen, sich die Menschen nicht als Spielball der Geschichte betrachten, sondern aktiv für ihre Freiheit einstehen. Dass dies möglich ist, hat die Historie gezeigt. 

Natalie Driemeyer

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