Dieses Land war ganz anders

Das Stück "89/90" entwirft ein schwebendes, vielgestaltetes Bild der späten DDR, erzählt aus der Perspektive von Jugendlichen.
Peter Richters für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „89/90“, den das Hans Otto Theater in einer eigenen Bühnenfassung zeigt, führt mitten hinein in eine schwindelerregende, hochpolitische Zeit zwischen Altem und Neuem, Verheißung und Desillusion. Es geht um eine Gruppe junger Menschen, die vom Strudel der Ereignisse mitgerissen werden. Aus ihrer Perspektive erscheint das historische Geschehen in einem eigenwilligen, neuen Licht. Der Ton ist witzig, voller Lebenslust, anarchisch, konkret, aber auch nachdenklich. Einerseits erleben diese jungen Leute die untergehende DDR als eine Art Absurdistan. Andererseits ist die erste Liebe des Protagonisten eine wirklich überzeugte Sozialistin, die mit heiligem Ernst für Gerechtigkeit kämpft. Das Stück zeichnet also ein schwebendes, vielgestaltiges Bild der DDR, mit den unterschiedlichsten Gruppen, Szenen, Cliquen, Milieus – und es zeigt sich: Dieses Land war ganz anders, als manche Klischees das suggerieren.

Mit ambivalenten Gefühlen blickt der Schauspieler Jörg Dathe auf sein ehemaliges Heimatland: „Dass die DDR unterging, war abzusehen. Es gab dort zu viele Umstände, die mich und viele andere wahnsinnig gestört haben: die ganze ideologische Indoktrinierung, die Gleichschaltung, die Vetternwirtschaft, die Überwachung. Auf der anderen Seite fand ich auch einiges gut und erhaltenswert: die Aufforderung zur Hilfsbereitschaft. Dass das Geld nicht so eine Bedeutung hatte. Oder die Idee, Solidarität mit Schwächeren zu praktizieren. Das vermisse ich heute.“ Mit sieben weiteren Kolleg*innen bildet Jörg Dathe das Ensemble der Produktion „89/90“. Dass die altersmäßig gut durchmischte Truppe vorwiegend die Perspektive von Jugendlichen darstellt, empfindet der 56-Jährige als besonderen Reiz. Damals war er als junger Schauspieler in Gera engagiert. „Als die Mauer fiel, brach alles zusammen. Und niemand ging mehr ins Theater. Mein Karrierestart war also ein kompletter Flopp. Und ich habe mich gefragt: Ist das jetzt das Ende meines Berufs generell? Werden jetzt alle Theater geschlossen? Überhaupt fand ich diesen Konsumwahn, der plötzlich ausbrach, sehr abstoßend. Ich war Idealist und hätte mich für einen dritten Weg interessiert.“

Im Stück werden die Ereignisse des Herbstes 89 als großes Abenteuer der Freiheit beschrieben, wo plötzlich alles möglich scheint. Die Zeit nach dem Mauerfall dagegen empfinden die Jugendlichen wie einen heftigen Kater, wenn plötzlich die Ideale der Friedlichen Revolution in den Hintergrund gedrängt werden und die Leute sich bei Woolworth um Westprodukte prügeln. Oder die Rechten die Straße zu beherrschen beginnen. So rücken im Verlauf des Stücks vermehrt kritische Fragen in den Blickpunkt: Wie sehr ist man bereit, für seine Ideale einzustehen? Oder befinden sich Idealisten sowieso auf verlorenem Posten? Welche Wunden wurden in der DDR-Bevölkerung gerissen, als der Kapitalismus das Land überrollte? Wie konnte es passieren, dass zunehmend rechtsradikale Gruppen das Bild dominierten?

Christopher Hanf
veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 03-2020