UMFRAGE

„Fass mich nicht an!“

Küssen verboten, aber wie probt es sich mit Abstand? Corona hat den Arbeits- alltag am Theater einschneidend verändert. Wir haben nachgefragt, was das für die verschiedenen Gewerke bedeutet.
Kristin Muthwill, Schauspielerin, Foto: Thomas M. Jauk
Matthias Müller, Technischer Direktor, Foto: Thomas M. Jauk
Ute Born, Chefmaskenbildnerin, Foto: Thomas M. Jauk
Kristin Muthwill, Schauspielerin
Anfang März begannen die Proben zu „Vögel“, ein emotional aufgeladenes Stück. Ich tröstete, ich umarmte, ich weinte an jemandes Brust, ich prügelte, ich hielt jemandes Hand, ich küsste. Eine selbstverständliche Körperlichkeit im Probenprozess. Dann kam Corona, Stillstand und danach ein kompletter Neubeginn der Proben. All diese Spielangebote sind nun untersagt. Abstand ist die Devise auf der Bühne. In der Tiefe des Spie- lens vergessen wir das
manchmal. Abbruch von der Regieseite. Ach ja! Wir ändern Texte von „Lass mich los!“ in „Fass mich nicht an!“ Das Erstaunliche: Irgendwie funktioniert es, dem Zuschauer wird es vermutlich kaum auffallen, er nimmt es als Ästhetik dieses Abends wahr. Jetzt habe ich eine Garderobe für mich allein. Dank Corona. Schade Rita! Jetzt können wir uns dort nicht mehr austauschen – über die Proben, das Stück, die Figuren oder einfach nur über Kochrezepte.

Matthias Müller, Technischer Direktor
Wir haben im März eine Vollbremsung hingelegt von Hundert auf Null. Plötzlich hieß es: kein Spielbetrieb mehr, keine Proben mehr! Natürlich haben wir die Zeit für andere Arbeiten genutzt, aber irgendwann kam die große Leere – und bei manchen auch die Existenzangst. Corona stellt uns vor viele Probleme: Theater sind mehr oder weniger ungelüftete Räume, und wir alle arbeiten hier sehr eng zusammen – sei es beim Ausladen der Container oder beim Aufbau eines Bühnenbildes. Unsere Arbeitsplätze sind einfach nicht auf Abstandhalten ausgelegt. Darum haben wir im ganzen Haus Aufkleber angebracht, die auf den Mindestabstand und die Maskenpflicht hinweisen. In allen Gängen und Toiletten gibt es Desinfektionsspender. Auf den Proben werden alle Schauspieler mit Namenslisten erfasst. Im Frühjahr gab es fast jede Woche neue Spielplanvarianten, das hat uns mürbe gemacht. Auch jetzt noch erreichen uns täglich neue Fragen von den Teams: Kann Nebel eingesetzt werden? Welche Requisiten müssen desinfiziert werden? Es herrscht eine ganz komische Stimmung. Die Kollegen wollen loslegen. Richtig erholt sind sie aber nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt. Manchmal fühle ich mich fast wie ein Zirkus- dompteur, der alle bei Laune halten muss. Denn jeder kommt zu mir und lässt seinen Frust ab. Das strengt am meisten an. Trotzdem sind wir auf einem ganz guten Weg. Mittlerweile ist es Alltag geworden. Ich persönlich denke, dass wir mit dieser Situation noch lange umgehen müssen.

Ute Born, Chefmaskenbildnerin
Corona hat uns kurzzeitig ratlos gemacht und mit Sorge um unser aller Gesundheit und unseren Beruf erfüllt. Wir haben jeden Tag viel darüber geredet, unsere Ängste und Sorgen ausgetauscht und uns sofort über Sicherheitsvorkehrungen verständigt. Dazu gehörten vor allem die räumliche Aufteilung und versetzte Arbeits- zeiten, um Kontakte zu beschränken. Nach der Einstellung des Spielbetriebs gab es plötzlich die Chance, den Perückenfundus aufzuarbeiten, Reparaturen an Perücken und Haarteilen auszuführen. Während meine Mitarbeiter*innen praktisch tätig waren, habe ich ein Arbeitskonzept unter Coronabedingungen entwickelt. Noch ist der Ablauf etwas abstrakt und theoretisch, aber zum Glück ist doch einiges möglich. Für jede*n Schauspieler*in gibt es nun personalisierte Schminkutensilien. Der maskenbildnerische Aufwand muss genau abgewogen werden, um z. B. nur dringend notwendige Umzüge im Stückablauf hinter der Bühne durchzuführen, denn dort gibt es nur wenig Platz. Wir alle werden uns an einen anderen, distanzierteren Umgang gewöhnen müssen.
Jana Chiara, stellvertretende Leitung Requisite, Foto: Linda Bergemann
Olaf Lindner, Leiter Abenddienst, Foto: Linda Bergemann
Sybille Becker, Leiterin Theaterkasse, Foto: Linda Bergemann
Anna Hercher, Regieassistentin
Jana Chiari, stellvertretende Leiterin Requisite
Proben, Premieren, Vorstellungen – plötzlich war das alles einfach weg. Und damit auch unsere tägliche Arbeit. Wir haben erstmal den Fundus aufgeräumt und teilweise Homeoffice gemacht, im Garten einen 100 Jahre alten Kinderwagen repariert, jede Menge Fahrräder aufgemotzt, solche Sachen. Dann sind wir voll in die
Maskenproduktion eingestiegen: zu zweit, mit Abstand, im Akkord. Später hat eine Kollegin einen Prototyp für Gesichtsvisiere entwickelt, aber momentan will die keiner haben. Jetzt sind wieder Proben, und wir müssen gemeinsam Lösungen finden: Was geht noch? Was muss verändert werden? Ich betreue das Jugendstück „So lonely“, das ab 22. September wieder läuft. Darin wechselt eine Kamera mehrfach ihren Besitzer – und jetzt spielt eben eine Packung Desinfektionstücher mit. Vorher sind wir mehrfach am Tag zu den Teams gegangen, um nach Requisitenwünschen zu fragen. Jetzt wollen die uns auf den Probebühnen gar nicht haben! Keiner weiß, was kommt. Das ist der bestimmende Gedanke. Meine gewohnte Arbeit zu machen – bei vol- lem Saal und Gewusel hinter der Bühne – kann ich mir momentan nicht vorstellen. Das ist es auch, was am meisten fehlt: dieser ungezwungene Umgang miteinander, ohne Bedenken.

Olaf Lindner, Leiter Abenddienst
Endlich ist die Zeit gekommen, dass wir wieder Gäste empfangen können. Wir brennen darauf! Für dieses Ziel mussten wir im Foyer einige Veränderungen vornehmen, die – so hoffen wir – den Theaterbesuch jedoch nur geringfügig einschränken werden. So sollte zum Beispiel die Maske bis zum Platz im Zuschauerraum getra-gen und erst dort abgenommen werden. Die Abstandsregeln dürften den meisten Menschen ohnehin längst „in Fleisch und Blut“ übergegangen sein. Allen Gästen erklären wir am Einlass nochmal die wichtigsten Regeln. Wenn jemand Fragen oder Wünsche hat, gehen meine Kollegen und ich gern darauf ein. Ich habe die Hoffnung, dass wir diese außergewöhnliche Zeit gemeinsam mit Respekt, Freude und Lust bewältigen können. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Sybille Becker, Leiterin Theaterkasse
Seit wir wieder spielen, stehen generell nur wenige Plätze zur Verfügung, die wir zunächst erst einmal unter den Abonnenten aufteilen. Deshalb haben wir leider zurzeit nur wenige Karten im freien Verkauf. Jedem einzelnen Ticket muss ein Besucher mit Name und Telefonnummer zugeordnet werden; auch für die jeweilige Begleitung müssen wir diese Daten erfassen. Das alles ist sehr zeitaufwändig, aber bisher zeigen unsere Gäste großes Verständnis. Wir hoffen sehr, dass das so bleibt. Übrigens, neuerdings verschicken wir Karten auch per Mail. Und wer mal seine Maske vergessen hat, kann an der Kasse eine kaufen.

Anna Hercher, Regieassistentin
Normalerweise ziehe ich als Regieassistentin so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf mich. Ich agiere eher im Hintergrund. Doch plötzlich muss ich darauf achten, dass sich die Schauspieler*innen auf der Probe nicht zu nahe kommen und im Zweifel laut dazwischenrufen: „Stopp, fasst euch nicht an!“ Das ist schon seltsam. Aber wie soll man auf der Bühne Zärtlichkeit ohne körperliche Nähe darstellen? Diese Frage stellt sich zum Beispiel in „Vögel“ von Wajdi Mouawad, meiner aktuellen Produktion. Da ist schauspielerisches Geschick gefragt, damit im Publikum eine Chemie spürbar wird. Ich bin selbst ein emotionaler, körperlicher Typ, und es fällt mir schwer, dem Impuls zur Umarmung zu widerstehen. Ich versuche, das mit herzlichen Worten zu kompensieren und trotzdem eine Nähe zu anderen entstehen zu lassen.

Umfrage: Björn Achenbach