„Theater kann Krise“

Intendantin Bettina Jahnke über ausgefallene Premieren, Kreativität unter Corona-Bedingungen und die geplante Wiedereröffnung im September
Bettina Jahnke bei einer Probe (im August 2019): „Sehnsucht nach der Bühne und dem Publikum“ Foto: Thomas M. Jauk
Es war Freitag, der 13. März, als die Corona-Pandemie das Hans Otto Theater erreichte. Die für den Abend in der Reithalle geplante Premiere „Die Mitwisser“ musste abgesagt, der komplette Spiel- und Probenbetrieb ab sofort eingestellt werden. Seitdem ist ein Vierteljahr vergangen. Die Bühnen und Büros sind verwaist, das Gros der Belegschaft befindet sich in Kurzarbeit. Im Theater selbst wird auf Sparflamme weitergearbeitet: In den Werkstätten und in der Verwaltung gab und gibt es alle Hände voll zu tun … Bettina Jahnke erwischte die Krise mit doppelter Wucht: Als Intendantin musste sie blitzartig in den Krisenmodus umschalten und gemeinsam mit der Geschäftsführenden Direktorin Petra Kicherer die Folgen der Pandemie für das Theater managen. Als Regisseurin blieb ihr nur, die Proben zu ihrer aktuellen Produktion „Vögel“ nach zwei Wochen auf Eis zu legen. Parallel dazu galt es, die längst durchgeplante Spielzeit 2020/21 unter veränderten Rahmenbedingungen neu zu denken.

Frau Jahnke, wie geht es Ihnen als Theaterfrau nach drei Monaten künstlerischer Zwangspause?
Bettina Jahnke: Meine Vorfreude auf den Moment, an dem wir endlich wieder spielen dürfen, ist riesig. Da ist aber auch die Anspannung, ob unter den aktuellen Hygienevorschriften alles funktionieren wird. Und ich bin voller Hoffnung, dass unser Publikum uns nicht vergessen hat. Dass es Lust und Mut verspürt, zu uns ins Theater zurückzukehren. Seit Mitte März sind allein sieben Premieren dem Shutdown zum Opfer gefallen. Was wird nun aus denen? Alle geplanten Premieren werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt, entweder in der nächsten oder übernächsten Spielzeit. Wir sind mit den Regieteams und Gästen im Gespräch und wollen prinzipiell alles retten, was geplant und zugesagt war.

Welche Folgen hat die Corona-Pandemie darüber hinaus für das Theater?
Die wirtschaftlichen Verluste sind immens und werden uns noch in den nächsten Spielzeiten beschäftigen. Seit Mitte März bis zum Ende der Spielzeit sind ca. 200 Vorstellungen, Zusatzveranstaltungen, Gastspiele und Vermietungen ausgefallen, und das bedeutet: Wir haben keine Einnahmen in dieser Zeit. Zudem sind unsere Mitarbeiter*innen seit 1. Mai in Kurzarbeit, und wie alle Institutionen mussten auch wir uns komplett neu erfinden. Statt Routine ist jeden Tag alles neu und anders.

Wie überbrücken die Theatermitarbeiter*innen und das Ensemble die unfreiwillige Spielpause?
Alle Arbeitsabläufe im Theater wurden nach einer kurzen Phase der Verunsicherung auf Corona-Bedingungen umgestellt, und ich muss mich an dieser Stelle bei der Belegschaft für ihre Kooperation und den Zusammenhalt bedanken: Es hat alles super gut funktioniert. Alle Abteilungen haben mitgezogen, sich Gedanken gemacht und sich zunehmend kreativ auf die neuen Bedingungen eingestellt. Mit den Mitarbeiter*innen, die im Homeoffice gearbeitet haben, wurden die Skype- und Zoomkonferenzen unverzichtbare Alternativen, um den Kontakt zu halten. Für das Ensemble kam der Lockdown einem Berufsverbot gleich, und trotz vielfältiger Netzaktivitäten konnte und kann die Sehnsucht nach der Bühne und dem Publikum nicht gestillt werden: Theater ist live, direkt und funktioniert nur im Miteinander.

Welche Erfahrungen haben Sie mit digitalen Formaten wie z. B. dem Streaming von Inszenierungen gemacht?
Das Streaming war ein willkommener temporärer Ersatz, kann aber keine Alternative zum wirklichen Theater sein. Wir haben das sehr gern und mit viel Enthusiasmus umgesetzt: Allein die 27 Lesungen an verschiedensten Orten im Theater waren für alle Beteiligten eine kreative Abwechslung zum Shutdown. Besonders gefreut hat mich, dass unsere gestreamten Inszenierungen bei nachtkritik und auf unserer Webseite weit über 1.000 Aufrufe hatten. Nur: Einnahmen haben wir damit nicht generiert – im Gegenteil. Auch diese Formate müssen – zu Recht – honoriert werden; es fallen z. B. Verlags- und Autor*innenrechte, GEMA-Gebühren und Gästehonorare an. Für die Zukunft kann dieses kostenlose digitale Kulturangebot kein Modell sein. Da müssen andere Angebote entwickelt werden, etwa Bezahlschranken oder digitale Abos. In der öffentlichen Debatte kamen die Theater lange nicht vor.

Was sagt das über den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft aus?
Ich glaube, die Politik unterschätzt den extremen Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft. Auch wir sind systemrelevant und unverzichtbar, und es hat mich gefreut, dass die kulturelle Stille nach und nach so laut wurde, dass die Politik nachgebessert hat und auch Hilfsprogramme für die kulturellen Institutionen und selbstständigen Künstler*innen aufgelegt wurden. Jetzt liegt der Ball bei uns. Durch kluge und kreative Exit-Strategien und Spielpläne werden wir beweisen, dass das Theater auch Krise kann. Das Hans Otto Theater bleibt bis 31. Juli geschlossen, auch das Sommertheater findet in diesem Jahr nicht statt. Nun hat die Landesregierung kürzlich entschieden, dass die Theater schon seit 6. Juni unter Auflagen wieder öffnen können.

Warum legen Sie nicht sofort wieder los?
Für uns kommt das zu kurzfristig. Theaterproduktionen benötigen einen längeren Vorlauf: Allein die Proben dauern sechs Wochen, ganz zu schweigen vom Bau eines Bühnenbildes oder der Anfertigung der Kostüme und Requisiten. Außerdem beginnt bereits am 19. Juni die reguläre Spielzeitpause für alle Mitarbeiter*innen. Für eine so kurze Zeitspanne stünde der Aufwand, den die Umsetzung der vorgegebenen Abstands- und Hygienevorschriften mit sich brächte, in keinem Verhältnis zum Ertrag – zumal für maximal 75 Zuschauer*innen.

Wann wollen Sie Ihr Haus wieder öffnen?
Wir wollen nach den Theaterferien ab 3. August stufenweise den Probenbetrieb wieder hochfahren und im September mit der ersten Premiere im Großen Haus die neue Spielzeit eröffnen: „Vögel“ von Wajdi Mouawad in meiner Regie. Danach folgen fünf weitere Premieren im Abendspielplan bis Dezember. Das gesamte Repertoire haben wir auf die zweite Spielzeithälfte geschoben, da fertige Produktionen nicht uminszeniert werden können. Ab Dezember hoffen wir dann auf weitere Lockerungen für die Theater und wollen zu einem normalen Spielbetrieb zurückkehren.

Vorausgesetzt, dass ab September wieder gespielt werden kann: Was erwartet das Publikum in der neuen Spielzeit?
 Zum 30-jährigen Jubiläum der Deutschen Einheit wird es im Großen Haus eine Uraufführung geben. Die Potsdamer Autorin Julia Schoch hat ihr erstes Theaterstück für das Hans Otto Theater geschrieben: „Die Jury tagt“. Darin geht es um die Frage, wem die Erinnerung und die Stadt gehören (siehe auch Interview auf Seite 11 / d. R.). Parallel dazu erinnern wir in der Reithalle mit „89/90“ an die wilde anarchische Zeit der Wende. Der Roman von Peter Richter kommt in einer Bühnenfassung von Christopher Hanf und der Regisseurin Fanny Brunner zur Aufführung. Alle weiteren Vorhaben – wenn auch ohne konkrete Premierentermine – können Sie unserem Spielzeitheft entnehmen, das im August erscheinen wird. Denn natürlich hängt die gesamte Spielzeit davon ab, wie sich die Landesregierung in ihrer nächsten Eindämmungsverordnung Ende Juli positionieren wird.

Wie funktioniert Theater unter Corona-Bedingungen?
Ich bin die Erste, die mit den Proben beginnt und unter den neuen Bedingungen künstlerisch arbeiten wird. Ich kann nur sagen: Technisch sind wir umgerüstet. Die Probebühnen und der Zuschauerraum sind umgebaut, zusätzliche Toiletten bereitgestellt, alle Verkehrswege wurden neu organisiert, und auch die Gastronomie hat sich mit Fantasie eingebracht. Alles ist bereit für das große Experiment, und ich muss sagen: Noch nie habe ich einer Spielzeiteröffnung mit so viel Aufregung und Neugierde entgegengefiebert. Wir werden uns alle verändert haben – auf, vor und hinter der Bühne wird nichts mehr so sein, wie es war. Aber das Theater lebt! Wie gehen Sie persönlich mit der Corona-Krise und ihren Begleiterscheinungen im Alltag um? Mit Demut, Geduld und langen Spaziergängen im Park versuche ich den entstandenen Kontrollverlust auszugleichen. Ich freue mich, wenn endlich die Proben beginnen und die Kunst wieder das Zepter im Theater übernimmt.

Interview: Björn Achenbach