Menschen am Abgrund

Marlene Anna Schäfer zeigt Vor Sonnenaufgang, eine Neufassung des gleichnamigen Sozialdramas von Gerhart Hauptmann, als berührendes Schauspiel.
Zuhören, wo die Sprache hingeht: Marlene Anna Schäfer Foto: Thomas M. Jauk
So ein Werdegang ist selten geworden im deutschen Theaterbetrieb: Marlene Anna Schäfer hat an verschiedenen Häusern als Regieassistentin gearbeitet, durfte währenddessen eigene Theaterarbeiten realisieren und arbeitet nun selbstständig als Regisseurin. Ein extra Regiestudium brauchte es da nicht, wohl aber das der Literatur- und Kulturwissenschaft in Berlin, „damit ich weiß, welche Geschichten ich später einmal erzählen will“. Dort kam die heute 34-Jährige auch erstmals mit Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ in Berührung, das sie gerade in Potsdam inszeniert hat. Schon damals habe der Text sie tief bewegt. Sie suche das Traurige in den Geschichten, die Abgründe der Menschen. Sie lacht viel im Gespräch, erzählt lebhaft und füllt den Raum mit ihren Ideen und Gedanken zum Theater. Von Traurigkeit ist nicht viel zu spüren.
„Vor Sonnenaufgang“ handelt von einer Familie, die im Mehrgenerationenhaus lebt. Depressionen, Alkoholmissbrauch und die Einsamkeit im neoliberalen Zeitalter sind nur einige der Themen, die auf der Bühne verhandelt werden. Im Hans Otto Theater kommt das Stück in einer Überschreibung des Autors Ewald Palmetshofer auf die Bühne.
Während ihrer Assistenzzeit war es ihr wichtig, das Handwerk zu lernen und eine eigene Regiehandschrift zu entwickeln. „Ich will auf den Proben ein Spiegel sein, beschreiben, was ich sehe und was sich erzählt. Ich will keine Idee diktieren – auch wenn ich eine Fantasie oder eine Vision habe“, beteuert Schäfer. Vom Regisseur Hermann Schein lernte sie beispielsweise „richtig zuzuhören“ – also darauf zu achten, wo die Sprache auf der Bühne hingeht, welche Anliegen die Figuren haben und was sie voneinander wollen. Marlene Anna Schäfer mag das Reisen von Theater zu Theater und liebt das episodenhafte Arbeiten. Sie ist gerne Gast. Der Magie des Theaters steht sie seit Kindertagen demütig gegenüber. Ihre Großeltern nahmen sie mit vier Jahren das erste Mal mit ins Staatstheater Darmstadt. Ihr Schulpraktikum absolvierte sie später dort in der Requisite und bastelte Bühnendekorationen für „Madame Butterfly“. Darüber muss sie heute noch schmunzeln: „Ich habe Lampions aus aufgeblasenen Kondomen und Pappmaché erstellt. Das kam mir als junges Mädchen komisch vor, aber am Ende war ich stolz, dass meine Arbeit auf der großen Bühne zu sehen war.“
Zu Beginn der Proben führt sie Einzelgespräche mit den Schauspieler*innen. Es geht ihr darum, einander kennenzulernen, ohne gleich etwas darstellen zu müssen. Wie will man gemeinsam miteinander arbeiten? Das herauszufinden, ist ihr wichtig. „Das Ensemble stellt sich für die Proben zur Verfügung, und das möchte ich auch tun. Das ist für mich Arbeiten auf Augenhöhe.“
Für Schäfer geht es in „Vor Sonnenaufgang“ auch um Sehnsucht und Hoffnung. Für sie sind alle Figuren starke aktive Kämpfer*innen, keine Opfer. Auch wenn die Zuschreibung von außen eine andere sein mag. Das Publikum mitnehmen in die Innenwelt der Figuren, ihr Handeln nachvollziehbar machen – das ist ihr Ziel.

Elena Iris Fichtner

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