"Kein heute ohne gestern"

Ein Gespräch mit dem Regisseur Sascha Hawemann

Ist der Unternehmer Karsten Bernick ein glücklicher Mensch?
Sascha Hawemann: Wenn er nicht daran erinnert werden würde, woher er kommt und wer er mal war, würde er wahrscheinlich denken, er könnte einer sein. Aber ich glaube, er ist tatsächlich ein zutiefst beunruhigter Mensch. Einer, der seine alten Freunde und Überzeugungen für wirtschaftliche, greifbare Erfolge geopfert hat.

Ist er also gefangen in den Zwängen des Systems?
Das wäre zu einseitig gesehen. Spekulation, Wirtschaft, Aktien, Zahlen können ja auf ihre Weise auch berauschend sein – wie einst die Protestform Rock ’n’ Roll. Die Beschleunigung, die Hyperaktivität oder Selbstoptimierung im Neoliberalismus hat u.a. etwas Manisches an sich und verlangt die totale Hingabe. Im Laufe der Zeit hat Bernick bloß die Ziele seiner Hingabe vertauscht.

Worin besteht die Tragödie seiner Frau Betty?
Bei dem alltäglichen Wettbewerbskrieg, den Bernick führt, sind seine Frau und sein Sohn der Kollateralschaden. Die Kernschmelze des Kapitalismus findet in der Familie statt. Durch die ständige Form von Verfügbarkeit, die seine Geschäfte von Bernick abfordern, bleibt nichts mehr übrig für Frau und Kind. Deshalb fühlen sich Betty und ihr Sohn Olaf emotional und sozial in ein Kälteumfeld versetzt. Bettys Eskapismus-Strategie manifestiert sich in ihrem starken künstlerischen Ausdruckswillen. An der Seite von Bernick kann sie als autonomes Subjekt nicht mehr stattfinden, muss repräsentieren, flüchtet sich in Kunst und leidet an Depressionen.

Geht es im Stück um das klassische Ibsen-Motiv „Lebenslüge“?
Mich interessiert darin eher das dialektische Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Also die Frage: Wie wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein? Welche Folgen für die Zukunft ergeben sich aus der Gegenwart? Indem Ibsen diese Fragen immer wieder virulent werden lässt, sind seine Stücke auch ein Gegenentwurf zur neoliberalen Philosophie, die das Ende der Geschichte behauptet und nur noch das Jetzt feiert. Ein gegenwärtiges privates, politisches oder soziales Desaster hängt jedoch fast immer mit der Vergangenheit zusammen. Kein Heute ohne Gestern.

Was sind Lona und Johan für Figuren? Sie kommen aus Amerika und bringen Musik mit.
Sie sind die Gespenster der Vergangenheit, die für ein anderes Lebensmodell stehen: für Subversion, Nichtanpassung, Rebellion, Kreativität, Kunst. Interessanterweise: rigoros scheiternd. Aber ich finde es wichtig, dass man auch rigoros scheitern und trotzdem widerständig wirken kann. Das Aushalten von Verlusten und Niederlagen muss nicht in Anpassung und Opportunismus münden.

Einige Figuren vertreten fremdenfeindliche, nationalistische Positionen. Warum?
Das Stück erzählt ja wesentlich vom Überleben in einem Kapitalismus, der sich in der Krise befindet. Es gibt einen starken Verdrängungswettbewerb und Konkurrenz durch ausländische Investoren. So herrscht bei vielen ein Gefühl der Angst, an die Wand gedrückt oder aussortiert zu werden. In dieser gesellschaftlichen Stimmung entwickeln sich auch rechte, anti-aufklärerische, irrationale Bewegungen, die als mystische Gemeinschaft oder als völkisches Kollektiv eine Alternative zum Kapitalismus bilden wollen, um mit Gewalt ein Gefühl von seelischer Heimat herzustellen.

Ibsen gilt ja vielen als Autor des gepflegten psychologischen Realismus. Wie siehst du ihn? Ich glaube, dass er als Autor im produktiven Sinne widersprüchlicher ist. Es gibt bei ihm auch dunkel gespenstische, maßlos ausufernde oder geradezu expressionistische Passagen, Elemente von Grand Guignol, abgründigen Symbolismus. Und außerdem Komik wie im well-made Vaudeville-Theater. Es gibt von Leidenschaft getriebene Figuren, viele Geheimnisse, groteske Kaputtheit und stille Sehnsucht. Oberflächlich wirkt das kanonisierte Ibsen-Drama psychologisch-realistisch, tatsächlich lotet es aber mit heterogenen Mitteln Abgründe des bürgerlichen Lebens aus.

Interview: Christopher Hanf

Über Henrik Ibsen

Anfang des 19. Jahrhunderts bestand Ibsens Heimatland Norwegen aus einer rückständigen Agrargesellschaft. In wenigen Jahrzehnten entwickelte sie sich in einen frühkapitalistischen Industriestaat. Dieser radikale Modernisierungs- und Fortschrittsprozess bedeutete zahlreiche soziale wie politische Umbrüche für das Land. Ab 1846 entstand ein modernes Verkehrssystem, 1854 wurde die erste Eisenbahnlinie gebaut. Von der wirtschaftlichen Dynamik und der damit einhergehenden Liberalisierung der Lebensverhältnisse profitierten besonders die Reeder in den Küstenstädten. Hier wurde das große Geld gemacht.

Mit dem Aufkommen von Tageszeitungen und einer überregionalen Presselandschaft vergrößerte sich für die meisten Norweger die Perspektive über die eigenen Grenzen hinaus, kamen andere Länder und Kulturen in den Blick. Auf diese Weise weitete sich der Horizont von Öffentlichkeit, gewann auch der Begriff der „öffentlichen Meinung“ an Bedeutung. Traditionelle Arbeitsverhältnisse, Familienstrukturen, Werte und Glaubensinhalte wurden fragwürdig. Die Frauen- und die Arbeiterbewegungen entfalteten ihr emanzipatives Potenzial und forderten Rechte ein. Ibsen Dichterkollege Björnstjerne Björnson konstatierte 1885: „Alles zerfällt, die Familie, die Gesellschaft, der Staat, die Kirche, alles zerfällt“.

In diese Welt der Unruhe, der Umbrüche und Spannungen zwischen Tradition und Fortschritt wurde Henrik Ibsen 1828 in der südnorwegischen Kleinstadt Skien geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Kaufmann. Schon früh begann sich der der kleine Henrik für darstellendes Spiel zu interessieren; er baute eine Marionettenbühne, schnitzte Figuren und war ein eifriger Puppenspieler. Unter Schulfreunden war er bekannt und berüchtigt dafür, besonders gut Karikaturen zeichnen und Leute nachahmen zu können. Nachdem das Geschäft seines Vaters bankrottgegangen war, erlitt die Familie das Trauma einer sozialen Deklassierung. Die Ehe von Ibsens Eltern war bald zerrüttet, der Vater begann zu trinken, die Mutter rettete sich in religiöse Schwärmereien.

Im Alter von 16 Jahren zog Ibsen in die kleinbürgerliche Stadt Grimstad, um eine Apothekerlehre anzutreten. Mit einer Dienstmagd zeugte er dort einen unehelichen Sohn, den er zeitlebens missachtete und dessen kaputte Existenz im Alkohol endete. 1850 siedelte Ibsen nach Christiana (Oslo) um, wo er u.a. als politischer Journalist aktiv war und sich für die Arbeiterbewegung einsetzte.

1852 wandte er sich dem Theater zu und begann – vorerst nur mit nur mäßigem Erfolg – nationalromantische Stücke zu schreiben. Zunächst ging er als Hausautor und Regisseur an das neu gegründete Norwegische Theater in Bergen, um 1857 nach Christiana zurückzukehren, wo er Künstlerischer Leiter des Norwegischen Theaters wurde. Seine Stücke dort fielen zumeist durch. 1858 heiratete er Suzannah Thoresen, die Tochter eines Probstes; ihrem gemeinsamen Sohn Sigurd galt die ganze Fürsorge des Vaters, sein ganzes Leben lang.

Anfang 1860 hatten Ibsen und das Norwegische Theater mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. 1862 war das Haus bankrott. In diesen Tagen notierte Ibsen in einem Brief, er fühle sich „isoliert und in einer furchtbaren Art einsam mitten in der Masse, ein Mensch, ausgerüstet mit reichen Talenten und starkem Willen, mit einem unbezähmbaren Drang zur Tat und mit dem Recht zu handeln – aber unverstanden und von allen zurückgestoßen.“ Seine Schwiegermutter charakterisiert den jungen Ibsen so: „Es war etwas Drolliges, Tollpatschiges und Ängstliches in seiner Art des Auftretens, er fürchtete lächerlich zu wirken, sich bloßzustellen. Er fühlte sich selbst ein wenig wie ein verlassenes, schief angesehenes Wesen, das außerhalb der guten Gesellschaft lebte.“

1864, im Alter von 36 Jahren verließ Ibsen mit seiner kleinen Familie Norwegen, um für 27 Jahre im europäischen Ausland, vornehmlich in Deutschland und Italien (u.a. in Rom, Dresden und München), zu leben. In die Gesellschaft seiner Gastländer war er nur wenig integriert, er blieb ein Zaungast. In einem Porträt über Ibsen heißt es bei Otto Brahm: „Er sitzt immer ganz allein an seinem Tische“. Im Ausland schrieb er u.a. „Peer Gynt“ (1867), „Stützen der Gesellschaft“ (1877), „Nora“ (1879), Gespenster“ (1881), „Ein Volksfeind“ (1882), „Die Wildente“ (1884), „Die Frau vom Meer“ (1888) und „Hedda Gabler“ (1890).

In diesen Stücken, die seinen internationalen Durchbruch brachten und inhaltlich wie formal eine Revolution für das Theater bedeuteten, vermochte er es, zentrale gesellschaftliche Widersprüche seiner Gegenwart zum Ausdruck zu bringen und dabei Privates und Politisches aufeinander zu beziehen. Auffällig ist, dass seine Figuren oftmals nicht aufgrund rationaler, souveräner Entscheidungen agieren, vielmehr erscheinen sie verstrickt in ihre Lebenssituation, hin- und hergerissen von ihrem Ego, gekettet an ihre Vergangenheit, getrieben von ihren Sehnsüchten, Eigeninteressen und Ängsten. Als hingen sie an dem Bedingungsgefüge ihres Daseins wie eine Marionette an ihren Fäden. 1891 kehrte Ibsen nach Norwegen zurück, wo er 1906 als gefeierter Dichter starb.

Christopher Hanf

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