Viel Gespür für menschliche Abgründe

Die Regisseurin Milena Paulovics über Molières Komödienklassiker „Der Menschenfeind“, dessen besondere Sprache und Heutigkeit
Im Sommer 2022 hast du am Hans Otto Theater „Der Geizige“ inszeniert, nun bringst du mit „Der Menschenfeind“ ein weiteres Stück von Molière auf die Bühne. Was ist für dich das Besondere an den Werken dieses Dramatikers?
Es sind Stücke, in die sich ein Ensemble mit großer Spielfreude hineinwerfen kann. Die wunderbaren Figuren, die auf eine raffinierte Weise humorvolle Sprache und die thematische Relevanz machen Molière für mich zu einem besonders spannenden Autoren. Es ist immer wieder überraschend, wie viel uns Molières Stücke heute sagen, und wie sehr diese jahrhundertealten Texte unseren aktuellen Debatten entsprungen scheinen. Dabei brauchen sie keinen Zeigefinger, sie entfalten sich mit großer Leichtigkeit und bei allem Gespür für menschliche Abgründe mit einem treffsicheren Humor.

Und was reizt dich speziell an „Der Menschenfeind“?
Bei "Der Geizige" ging es um unser Verhältnis zum Geld, was macht unser auf Geld fixiertes System mit uns, unseren Mitmenschen und der Gesellschaft? Beim "Menschenfeind" geht es um Lüge und Wahrheit, im Kern also um die Frage: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie wollen wir kommunizieren? Es sind Grundfragen unseres Zusammenlebens, die hier mit Charme und Biss verhandelt werden. Eine Besonderheit beim "Menschenfeind" ist dabei die gereimte Sprache. Die Figuren nutzen sie wie ein Aushängeschild, das sie vor sich hertragen. Wir wiederum können die Sprache nutzen, um die Figuren mit einem komödiantischen Blick zu erforschen.

Die Titelfigur, der Menschenfeind Alceste, wurde im Wandel der Jahrhunderte immer wieder neu interpretiert und dabei – zugespitzt - je nach Zeitgeist, mal als sozial dysfunktionaler Kauz, mal als idealistischer Held gesehen worden. Was ist dein Bild von dieser Figur?
Alceste ist für mich in etlichen Momenten sehr nachvollziehbar, sein Wunsch nach Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit geht sicher vielen Menschen nah. In seiner Radikalität und Intoleranz gegenüber anderen Sichtweisen sprengt er aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Insofern gibt es für mich bei der Figur – wie auch bei den anderen Figuren im Stück – kein Schwarz-Weiß, kein Richtig oder Falsch, sondern eine differenziertere Betrachtung. Möglicherweise werden die Zuschauer*innen immer wieder die Seite wechseln, sich dabei ertappen, mal für diese, mal für jene Position Partei ergriffen zu haben und in der Pause darüber diskutieren – wir würden einen Beitrag zur aktuell verhärteten Debattenkultur geleistet haben.

Alcestes Menschenfeindlichkeit kann nur im Kontrast zu den Menschen, die ihn umgeben, stattfinden. Was für eine Gesellschaft, was für Menschen sehen wir da?
Wir sehen eine Gesellschaft, die sich über Vergnügen und Ablenkung definiert, die auf lustvolle Weise an der Oberfläche bleibt – und dabei besonders gerne über nicht anwesende Personen lästert. Hier ist Selbstdarstellung ein Lebenselixier, zur Schau gestellte Eitelkeit die Norm und das Streuen von Gerüchten der Höhepunkt des Tagesablaufs.

Du stehst noch ganz am Anfang der Probenarbeit. Worauf freust du dich am meisten?
Ganz klar auf die Arbeit mit dem Ensemble! Und natürlich auf Molières Sprache, auf die Figuren, die Situationen und unseren Spielort – das Schlosstheater im Neuen Palais.

Interview: Nina Rühmeier

"SIE LIEBEN MICH NICHT, WIE MAN LIEBEN SOLL."

Dramaturgin Nina Rühmeier über die verstrickte Handlung und das Gesellschaftsbild in Molières "Der Menschenfeind"
„Die schwärzesten Theaterstücke aller Zeiten in Form der Komödie“ – so bezeichnete der französische Dramatiker Jean Anouilh einmal die Werke Molières. Und wirklich warten hinter Kaskaden feinperlender Verse, hinter eleganten Wortspielen und wohlplatzierten Pointen die Abgründe. Geiz und Neid, Heuchelei und Überheblichkeit … Kaum ein menschlicher Makel, den Molière in seinen Charakterkomödien nicht seziert hätte. Keine einzige seiner zahlreichen Figuren bleibt ohne Fehler. Selbst Philinte, der treue Freund des Menschenfeindes Alceste, der für alle und alles Verständnis hat und stets um Ausgewogenheit bemüht ist, wird im Zweifel lieber Opportunist als Außenseiter. Denn, so führt uns Molière vor Augen, wir sind alle nicht, wie wir sein sollten. Und hier tritt uns der Mensch Molière entgegen, der uns lachen lässt, nicht über die Fehler Dritter, sondern unsere eigenen. Und der uns immer wieder Nachsicht in den Blick legt. Sein Alceste mag ein arroganter Besserwisser mit misogynen Zügen sein, der die Interessen der Frau, die er zu lieben meint, konsequent hinter den seinigen zurückstellt. Und doch können wir auch seine Courage bewundern, die Scheinheiligkeit seiner Umgebung offen anzusprechen und für die eigenen Werte einzustehen.

Die junge Witwe Célimène, um die Alceste neben vielen anderen Männern buhlt, wird diesen Werten allerdings nur selten gerecht. Als gute Gastgeberin unterhält sie in ihrem Salon alle mit spitzer Zunge und den neuesten Gerüchten. Doch kann sie nicht nur austeilen, sondern auch einstecken. Und das muss sie reichlich, denn für eine Frau, die ihre Unabhängigkeit auch dadurch zu wahren sucht, dass sie sich mehrere (einflussreiche) Männer zugleich gewogen hält, hat die Gesellschaft am Ende nur Verachtung übrig. Was sie mit Alceste verbindet, ist eine innere Freiheit, die sich letztlich der Gefälligkeit verwehrt. Diese Freiheit hat auch ihre Gegenspielerin Arsinoé, deren Intrigen Célimène zum Verhängnis werden. Alleinstehend, kinderlos und nicht mehr jung, wird sie von ihrer Umgebung als bedürftiges Mängelwesen wahrgenommen und findet doch Wege – wenn auch moralisch fragwürdige – sich ins Zentrum des Geschehens zu spielen und die Abhängigkeiten umzukehren.

Die zwillingshaften Marquis und der einflussreiche Freizeitpoet Oronte, die wie Alceste darauf hoffe, das Rennen um Célimènes Gunst zu gewinnen, führt Arsinoé jedenfalls sehr souverän am Nasenring genannt Eitelkeit durch den Salon. Der angenehm uneitlen Éliante, der Vertrauten und Cousine Célimènes, müssen wir derweil dabei zusehen, wie sie sich von Alceste demütigen und ausnutzen lässt, bevor sie … Aber das sei hier nicht verraten. Zurückgewiesen, ausgegrenzt oder ausgelacht, das wird jede einzelne Figur in diesem Stück mindestens ein Mal. In dieser sensationslüsternen Gesellschaft, in der man sich lustvoll miteinander empören, aber Ehrlichkeit schwer ertragen kann, müssen am Ende (fast) alle in ihrem Innersten einsam bleiben.

MOLIÈRE

getauft am 15. Januar 1622 in Paris unter dem bürgerlichen Namen Jean-Baptiste Poquelin. Als Sohn eines königlichen Tapezierers und Kammerdieners erhielt er eine gute Bildung bei berühmten Gelehrten und studierte einige Zeit in Orléans Rechte und Philosophie. Zurück in Paris, widmete er sich unter dem Einfluss des italienischen Komödianten Tiberio Fiorelli (berühmt als „Scaramouche“) und der Schauspielerin Madeleine Béjart dem Theater. 1643 gehörte er zu den Gründern des „Illustre Théâtre“ – einem Familienunternehmen der Béjarts. Da es dem etwa zehnköpfigen Ensemble zunächst nicht glückte, in Paris Fuß zu fassen, zog es als Wanderbühne durch Frankreich, wurde zunehmend bekannt und von adligen Gönnern protegiert. Nach 13 Jahren Provinz bekam die „Truppe von Monsieur, dem einzigen Bruder des Königs“ die Einladung, am 24. Oktober 1658 eine Galavorstellung im Louvre vor dem Hofstaat und Ludwig XIV. zu geben. Molière trat zum ersten Mal in Paris als Komiker auf und amüsierte den jungen Monarchen. Unter dem Protektorat des Sonnenkönigs bekam Molières Truppe eine feste Bühne in Paris. Ab 4. Februar 1661 spielte sie im Palais Royal, dessen Theatersaal für 1500 Personen Platz hatte, und wo Molière seine berühmtesten Werke uraufführte, darunter „Der Geizige“, „Don Juan“, „Der Menschenfeind“, „Amphitryon“ und „Tartuffe“. Am 17. Februar 1673 verstarb Molière erschöpft und todkrank auf der Bühne in seiner letzten Rolle – als Argan in „Der eingebildete Kranke“.