Möglichkeitsraum der Geschichte

Dramaturg Christopher Hanf über einige Aspekte des Romans „89/90“ im Blick auf unsere Theaterinszenierung
An einer Stelle im Roman berichtet der Ich-Erzähler davon, wie im Schulfach Astronomie der Lehrer einst mit seinem Stielkamm im Projektor herumstocherte, weil sich dort ein Dia verhakt hatte: „Man sah dann statt der Spiralnebel des Saturn die Schattenrisse seiner Schuppen zwischen den Zinken. Aber immerhin eröffnete er uns den Weltraum, wo einem die Räume auf der Welt immer enger gemacht wurden.“ In dieser Anekdote zeigt sich eine für den Roman charakteristische Konstellation. Denn auf unterschiedliche Weise geht es darin immer wieder um das Verhältnis des Kleinen und Marginalen zum Großen und Ganzen. Um die Frage, in welcher Beziehung individuelles Schicksal und Weltgeschichte, Alltägliches und Historisches zueinander stehen.

So wie Haarschuppen und Saturnnebel ein reichlich schräges Zusammentreffen darstellen, ergibt Peter Richters Schilderung der untergehenden DDR eine Collage aus sehr disparaten Motiven, aus einer großen Vielfalt heterogener Szenen, Gruppierungen und Milieus. Verschiedene Wirklichkeitspartikel werden aneinander montiert, so dass eine multiperspektivisch aufgebrochene Bestandsaufnahme dieser wilden Zeit entsteht. Zu Worte kommen u.a. Staatsbürgerkunde-Lehrerinnen, Anarchisten, eine junge überzeugte Kommunistin, Nazi-Skinheads, Wehrlager-Kommandanten, Mitläufer-Typen in moonwashed Jeans, Helmut Kohl, Friedens-Aktivisten, Lagerarbeiter, Punks und Jung-Kapitalisten. Die Welt, in der sich der Protagonist bewegt, gleicht einem Provisorium, einem großen Experimentier- und Möglichkeitsraum. In diesem Raum gibt es zumindest momentweise die Hoffnung, eine andere – bessere, gerechtere – Gesellschaft sei realisierbar.

„Die Frage war, ob zwischen dem einen stupiden System und dem nächsten, vermutlich genauso stupiden System noch etwas anderes möglich sein könnte. Und die Antwort war: klar, das Paradies.“

Doch zunehmend formieren sich in der Vielstimmigkeit des auseinanderfallenden Landes neue Fronten. Und so ist der junge Mann herausgefordert, Haltung zu beziehen, sich zu positionieren. Er definiert sich als moralisch überlegener Kämpfer gegen Neonazis, Mitläufer und Kapitalisten. Er wird diesen Kampf verlieren.

Dabei dienen ästhetische Codes und Kleidungsstücke als Abgrenzungsmerkmale. Es scheint fast so, als sei die politische Haltung eine Frage der richtigen Kleidung. Und der Erzähler stellt nachdenklich wie irritiert fest, dass mindestens im Bereich des Stylings die Übergänge zwischen den Fronten fließend sind. Dass es mehr Überschneidungen mit den Gegnern gibt, als ihm lieb ist. Dass also die politische Haltung auch nur eine Pose sein könnte.

Solch (selbst-)kritische Überlegungen sind bezeichnend für den Erzähler dieses Romans. Er beschreibt seine Geschichte ja im Rückblick. Wenn auch der heiße Atem jener aufgewühlten Zeit durch den Text weht, begegnen uns die historischen Ereignisse doch in gebrochenem Licht – als Erinnerungen, durchsetzt von Reflexionen und Zweifeln. Bei aller Ironie und jugendlich frecher Attitüde liegt auch ein gewisser Schmerz über dem Text, ein Moment von Melancholie, von Vergeblichkeit. Und es stellt sich immer wieder die Frage nach dem Scheitern in jener Zeit, in der so vieles möglich schien: Was ist da alles schiefgelaufen?

Es ist dies ein Aspekt, der die Regisseurin Fanny Brunner besonders interessiert: „Die Frage nach den persönlichen Handlungsspielräumen in einem solchen historischen Umbruchsszenario beschäftigt mich sehr. Wie viel Einfluss kann man da nehmen? Wann entgleiten einem die Dinge? Und was passiert, wenn die mächtigen Player auftreten? Sind die Einzelnen dann doch wieder nur Krümel auf der großen Platte? In unserer Bühnensituation entwickelt sich zwischen den Performer*innen zwar momentweise ein gemeinsames Wollen, aber dann entsteht erneut ein Kräftefeld aus zahlreichen disparaten Entwicklungen, Interessen und Ansichten. Es geht mir um das fragile Wechselspiel zwischen Prozessen des Gleichzeitigen und Ungleichzeitigen. Dabei ist Mehrstimmigkeit ein wichtiger Aspekt in unserem Ansatz. Deshalb erzählen wir die Geschichte auch bewusst mit einem herkunfts- und altersmäßig heterogenen Ensemble, so dass verschiedene Positionen miteinander ins Spiel kommen, sich überlagern, ergänzen, widersprechen. Dadurch entstehen Reibungen, die neue Perspektiven auf die Geschichte eröffnen. Es ist mir dabei wichtig, dass wir das Disparate gemeinsam erzählen. Und dass es keine simplen Wertungen und Verurteilungen gibt, sondern dass eine Durchlässigkeit entsteht zwischen den Positionen, den Schauspieler*innen, den Zeiten sowie zwischen Publikum und Bühne.“

Christopher Hanf

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