"Der Tod ist nichts Abwegiges"

Ein Gespräch mit den Schauspieler*innen Laura Maria Hänsel, Arne Lenk und Katja Zinsmeister über Liebesentzug, Mut und Selbstbestimmung
In „Gehen oder Der zweite April“ werden drei erwachsene Geschwister mit dem Entschluss ihrer Eltern konfrontiert, gemeinsam aus dem Leben gehen zu wollen. Ihr spielt diese drei Kinder. Was habt ihr gedacht, als dieser Stoff an euch herangetragen wurde?
Arne Lenk: Dass es ein wichtiges Thema ist, das ich so noch nicht im Theater gesehen habe.
Laura Maria Hänsel: Ich war offen und mir zugleich nicht wirklich bewusst, was auf mich zukommt.
Katja Zinsmeister: Zuerst hab ich auch gedacht: spannend, tolles Thema. Und als ich es dann las, ging mir das sehr nahe. Da hab ich mir gesagt, jetzt muss ich mich mal damit auseinandersetzen!

Ihr seid mitten in den Proben. Wie geht es euch dabei?
Zinsmeister: Es ist toll, dass wir eine unglaublich leichte Arbeitsatmosphäre haben – positiv, schön und lustig. Die hilft, das zu spielen und einen Weg zu suchen, damit es spannend wird auf der Bühne.
Hänsel: Und es wird ja auch abseits dieses Selbstmordes vieles verhandelt, was die Familie angeht. Das nimmt viel Raum ein, bevor es ans Eingemachte geht.
Lenk: Man kann sich diese Situation gut vorstellen. Weil das jedem von uns passieren kann, unabhängig davon, ob man mit den eigenen Eltern schon mal über so ein Thema geredet hat. Tod, Familie – das ist ja nichts völlig Abwegiges. Auch dieser freiwillige Tod nicht.

Das Thema Sterbehilfe wird seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum kontrovers diskutiert. Musstet ihr euch schon mal damit auseinandersetzen?
Hänsel: Mit dem Tod, ja. Aber damit, es selbst tun zu wollen, um das Leiden zu verringern, zum Glück nicht.
Lenk: Noch nicht direkt. Aber seit ich mich mit dem Stück beschäftige, denke ich viel daran, was wohl in zehn, 15 Jahren sein wird.
Hänsel: Mit den eigenen Eltern?
Lenk: Ja, wer weiß, ob einer dann auch auf so eine Idee kommt?
Zinsmeister: In der eigenen Familie habe ich das noch nicht erlebt, aber im Bekanntenkreis schon. Die Situation war allerdings eine andere als im Stück, wo ja noch beide gesund sind. In dem Fall, den ich mitbekommen habe, ging es wirklich darum, das Leiden zu verkürzen.
Hänsel: Aber auch dieses Stück beruht ja auf einem realen Fall. Es gibt einen Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung darüber, der hat mich nochmal ganz anders vom Pferd geholt.

Wie bringt man so ein Thema auf die Bühne?
Zinsmeister: Es gibt einen super Kniff der Regie – die Enkelin. Im Stück ist es die Tochter meiner Figur. Sie ist sechs Jahre alt. Bei uns ist es ein Mädchen in der Pubertät, das die Geschichte rückblickend erzählt. Sie nimmt quasi den Zuschauer an die Hand und führt ihn durch ihre Erinnerung. Dadurch eröffnen sich uns verschiedene Ebenen: Fantasie, Erinnerung, Realität. Das hebt alles nochmal auf ein anderes Level.
Lenk: Die Bühne ist nicht naturalistisch, sondern ein poetischer Raum. Das eröffnet schöne Möglichkeiten des Spiels. Dass dieses Sterbenwollen von einer jungen Frau erzählt wird, die das wiederum als kleines Mädchen erlebt hat, finde ich sehr einleuchtend.
Zinsmeister: Da verschiebt sich so Zeit. Ganz große Themen werden da aufgemacht.
Hänsel: Alles, was die reale Situation von den Figuren ablöst und sie in etwas Überzeitliches verwandelt, verstärkt das Poetische. Das finde ich gleichzeitig erleichternd und erweiternd.

Jan, Anna und Jule reagieren sehr unterschiedlich auf die Mitteilung ihrer Eltern – von aggressiv bis verständnisvoll. Allen gemeinsam ist eine Art Fluchtimpuls: Sie wollen der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen und verlassen immer wieder den Raum; ein wirkliches Gespräch findet lange nicht statt. Man fragt sich: Was läuft schief in dieser Familie?
Lenk: Einerseits läuft da etwas schief, es gibt viele Konflikte. Andererseits ist es eine ganz normale Familie …
Zinsmeister: … mit vielen Verletzungen und unter den Teppich gekehrten Themen, aber auch mit viel Liebe und Humor.

Es wird sehr darauf ankommen, wie ihr das spielen werdet.
Lenk: Genau. Man könnte auch die absolute Alptraumfamilie draus machen.
Hänsel: Die Ankündigung der Eltern wirkt wie ein Nadelöhr auf die Familienmitglieder. Sie werden zueinander gezwungen. Konflikte, die vorher weltbewegend waren, geraten angesichts dieser Entscheidung in den Hintergrund.
Lenk: Jede Figur macht natürlich auch eine Entwicklung durch. Teilweise dreht sich das um 180 Grad.

Das Stück handelt auch von der Selbstbestimmung des Menschen. Lore und Arno wollen selbst entscheiden, wann und wie sie „gehen“. Warum lassen die Kinder sie eigentlich nicht?
Zinsmeister: Ich finde das sehr schwierig.
Lenk: Es ist die Abwägung der Verantwortung, die man seinen Kindern und Enkeln gegenüber hat, im Verhältnis zu dieser Selbstbestimmung. Es ist ein Prozess, der miteinander stattfinden muss. Die Eltern versuchen es ja …
Zinsmeister: … sich zu erklären? Den Entschluss haben sie schon gefasst.
Lenk: Aber sie hoffen auf Verständnis – und auf einen Weg, den sie mit der Familie gemeinsam gehen können. Das scheitert natürlich.
Zinsmeister: Meine Figur, Anna, lehnt das ja am kategorischsten ab. Ich dachte lange, dass mir das zu eindimensional ist. Inzwischen geht mir das nicht mehr so. Das rührt von einer großen Verletzung her, dass die Eltern, vor allem die gesunde Mutter, sie verlassen – bei vollem Bewusstsein. Das ist eine ganz große Kränkung. Daraus entsteht diese Überforderung, diese Reaktion zu sagen: Okay, dann breche ich das jetzt hier ab.
Lenk: Die Kinder haben einfach das Gefühl, dass das eine Art von Liebesentzug ist.

Letztlich steht die Frage im Raum, was egoistischer ist – zu gehen oder jemanden zum Bleiben zu zwingen?
Zinsmeister: Das kommt ja immer auf die Situation an!
Lenk: Aber es sind Fragen, die das Stück aufwirft. Deshalb finde ich das Thema auch so interessant für die Bühne. Ich hab mir auch folgende Frage gestellt: Wenn man ganz unkritisch sagen würde, jeder kann das machen, wann immer er will – würde das nicht in der Gegenrichtung die Gefahr bergen, dass es jemand tut, um anderen nicht länger zur Last zu fallen? Und dann stelle ich mir auch eine Familie vor, in der es heißt: Du kostest viel Geld, wir müssen dich dauernd pflegen – warum tust du es nicht einfach? Das ist die Schattenseite.
Hänsel: Es ist ja auch eine Frage, die sich neu stellt! „Warum lässt man sie nicht einfach gehen?“ Das war ja bisher nicht Usus in unserer Gesellschaft, das gibt es ja erst seit einem Jahrzehnt. Weil das Leben immer mehr verlängert wird, die Medizin immer potenter wird und man, statt mit 60 zu sterben, auf einmal mit 85 immer noch um den See laufen kann. Oder eben nicht mehr und sich dann diese Frage aufdrängt: Mach ich’s selbst, bevor es qualvoll wird? Das ist eine ganz moderne Frage, zu der ich noch überhaupt keine Haltung habe.
Lenk: Ich finde es einerseits total schwer mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir das mit meinen Eltern passieren würde. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass es für viele Menschen auch ein Trost sein und ihnen die Angst vor einem würdelosen Lebensende nehmen kann. Allein, diese Option zu haben.
Hänsel: Es hat auch mit dem Rückzug der Religion zu tun. Wenn ich an das Deutschland denke, in dem ich groß geworden bin – das war in Westdeutschland –, dann läuteten allerorten die Kirchenglocken, es wurden Tischgebete gesprochen. Selbstmord war Sünde! Man kam dafür in die Hölle, vereinfacht ausgedrückt. Das ist vorbei. Statt dessen gibt es heute ganz vielfältige Sichtweisen auf das Leben, Yoga, Meditation, das Rad des Lebens und alles-kehrt-wieder. Weil das alles verschwimmt, sind auf einmal solche Überlegungen möglich.

Was macht Mut in diesem Stück?
Zinsmeister: Die Enkelin.
Lenk: Ja, stimmt. Sie vermittelt zwischen den beiden „Konfliktparteien“, den Eltern und den Kindern.
Zinsmeister: Sie ist die Empathische, die das Verständnis füreinander fördert.
Hänsel: Ach, ich finde, das ist gar kein Stück, an dem einem der Mut gebricht. Natürlich ist das Thema traurig. Es ist der Versuch einer Auseinandersetzung damit – und die ist per se mutig. Es ist der Versuch, etwas in poetischer Form zur Sprache zu bringen. Ich würde da alle Angst nehmen wollen, dass man das nicht aushält.

Interview: Björn Achenbach

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