DIGITALES PROGRAMMHEFT

REGISSEUR ANDREAS MERZ IM GESPRÄCH
Dürrenmatt schrieb „Die Physiker“ vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der nuklearen Aufrüstung. Welche Setzung hat deine Inszenierung?
„Die Physiker“ sind Dürrenmatts Atomstück, aber die Physiker im Stück selbst sind gar keine Atomphysiker. Es geht um Verantwortung von Wissenschaft. Damals war die nukleare Krise und ihr Zerstörungspotenzial das Bestimmende. Diese Ängste sind zwar noch immer da, aber scheinbar haben wir uns mit ihnen angefreundet. Was unsere Debatte in den letzten Jahren dominiert, ist die Gefahr künstlicher Intelligenz, weil wir als Menschheit fürchten, die Kontrolle über unser eigenes Geschick zu verlieren. Das ist keine großartige Veränderung des Stoffs, sondern eine Engführung oder ein logischer nächster Schritt.
Bei Dürrenmatt geht es darum, dass zwei verschiedene Kräfte kommen, um das Wissen zu benutzen und moralisch falsch anzuwenden. Bei uns ist es so, dass das Wissen sich von den Mächten emanzipiert und sich eventuell selbstbestimmt gegen die ganze Menschheit richtet.

Die Weltformel, die Möbius im Stück gefunden hat, stellt eine Bedrohung für die Menschheit dar, wenn sie in die Hände der falschen Mächtigen gerät. Wer sind diese Mächtigen?
Im Fall von KI sind die Mächtigen die Tech-Bros im Silicon Valley. Sie vertreten einen Ultraliberalismus, also eine Ablehnung jeglicher Beschränkungen und Regulation. Das ist schon sehr nah an der Argumentation von Frau Doktor von Zahnd, dass wenn etwas wissenschaftlich entdeckt ist, es auch angewendet werden muss.
Möbius‘ Erkenntnisse müssen dann in der Konsequenz weitergedacht werden, auch wenn ihre Anwendung massive Risiken mit sich bringt.

Dadurch entsteht ein Teufelskreis des ewigen Fortschritts.
KI simuliert ja bis in die Unendlichkeit, also unzählige Möglichkeiten. Das entspricht eigentlich sehr der Idee von Dürrenmatt, weil, wenn wir ehrlich sind, ist ja auch sein Sanatorium eine Simulation, wenn auch keine Computersimulation. Menschen, die eigentlich eine Werkspolizei sind, tun so, als wären sie Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. Deswegen fand ich das dem Stück sehr angemessen.
Die Handlung ist wie ein Experiment aufgebaut, um das Wissen und Denken von Möbius zu analysieren, extrahieren und anwendbar zu machen. Möbius ist eben nicht Herr seines eigenen Schicksals und kann sein Wissen nicht kontrollieren, sondern er wird ausgebeutet und zum Opfer seiner eigenen Anwendung.

Welche Risiken birgt die Künstliche Intelligenz im Alltag, aber auch in der Kunst?
Ich glaube einfach, dass wir vor enormen Umwälzungen stehen, was unser Gemeinwesen angeht. Alleine in der Verwaltung, die wir hoffentlich leichter gestalten können, bedeutet das gleichzeitig, dass wir viele Verwaltungsjobs verlieren. Da wird sehr viel umgewichtet und das kann natürlich auch zu härteren sozialen Verschiebungen führen. Genauso wie es bei der Maschinisierung der Traum war, müssen die Menschen weniger arbeiten, aber leider wird der Gewinn nicht gleichmäßig unter allen Menschen verteilt.
Was wir gerade erleben ist, wie KI auch unseren Alltag verändert, weil wir sie so viel benutzen, ob als Gesprächspartner oder zum Schreiben von Briefen und Texten. Die Befürchtung ist ja immer bei solchen Schritten, wie weit wir uns abhängig und damit auch unmündig machen, weil wir gewisse Denkschritte einfach an Maschinen auslagern.
In der Kunst sehe ich, wie unsere Bühnen- und Kostümbildnerin Galya Solodovnikova oder unser Videokünstler Oleg Mikhailov hervorragend KI anwenden und dass es nicht bedeutet, dass sie selber nicht kreativ sind, sondern dass sie eigentlich viel kreativer sein können.
Was mich freut, ist, dass das Theater ­- so altmodisch es ist - dagegen absolut bestehen wird, weil selbst die Roboterbühne den unmittelbaren menschlichen Kontakt nicht ersetzen kann.

Wie lässt sich denn KI im Theater darstellen?
Mit Videokunst können wir eine manipulierte Wirklichkeit darstellen. Und wenn das in der Hand einer mächtigen Person liegt, dann ist es einfach so, als hätte jemand die Fernbedienung zu dem Film deines Lebens. Es ist unklar, was Wahnsinn ist oder was von außen kommt und Wahnsinn stiftet.
Wir wollten bewusst mit einem Prinzip von Wiederholung und Parallelität arbeiten und im Bühnenbild adaptieren: ein eigentlich konventionelles Bühnenbild, das sich dann aber nach hinten in die Unendlichkeit multipliziert und so eine Verschiebung von Wirklichkeit erzählt.

Die Bühne und Kostüme scheinen dagegen wie aus einer anderen Zeit. Wie verbinden sich das Digitale und das Analoge?
Ästhetisch wollten wir nah an Stück und Autor sein. Dürrenmatt hatte seinen kommerziellen Durchbruch mit Krimis und ist dem Gerne auch treu geblieben als Vehikel für seine Stücke. Deshalb spielen wir mit dem Film Noir der 1950er als Genre, das die Realität verzerrt. Die Figuren fühlen sich also ‚wie im falschen Film‘.

Was macht Dürrenmatt, beziehungsweise sein Schreiben und sein, wie er ernste Themen in Grotesken, Grotesken, Komödien umschreibt, beziehungsweise verpackt besonders?
Ich habe jetzt zum ersten Mal Dürrenmatt gemacht und man lernt jemanden immer über die Arbeit kennen. Ich lese vorher gerne die Biografien, weil ich meine die Biografie im Schreiben wieder zu erkennen. Bei Dürrenmatt ist es ein sehr kluges Schreiben, weil er aus der Philosophie kommt, das heißt, er schreibt keinen Fernsehrealismus, sondern es sprechen Figuren sehr schlaue, gesetzte.
Dürrenmatt hat seine Texte alle handschriftlich geschrieben und man muss eigentlich davon ausgehen, dass man für solche Buchstaben jeweils eine Sekunde braucht, bis der geschrieben ist. Also ist das ein sehr bewusstes Schreiben und das braucht auch ein sehr bewusstes Spiel. Dürrenmatts Figuren sind gleichzeitig frei und unfrei. Ich musste ganz viel an Camus’ „Mythos des Sisyphos” denken. Der kann sich auch nicht aus seiner Rolle lösen, den Stein nach oben zu schieben, und die Freiheit ist eigentlich mehr das Bewusstsein darüber, dass man nicht nur identisch sein muss mit dem, wo man hingestellt worden ist.
Hier hat man auf einmal einen Text, der schockierend zwangsläufig ist, sodass sich fast ein griechisches Tragödienniveau ergibt, wo das Individuum gegen das anrollende Schicksal kämpft. Das ist sehr spezifisch für diesen Autor und wir haben schon öfter im Prozess gesagt: „Das ist schon toll, wenn man mit dem Text von einer Person arbeiten kann, die das Schreiben wirklich beherrscht.“
WEITERFÜHRENDE LINKS
Im SWR-Formate „Autoren erzählen“ gibt Friedrich Dürrenmatt Einblicke in seine Arbeit, was für ihn Humor ist und, warum das "Irrenhaus" in seinen Werken eine Rolle spielt.
Die „Sternstunde Philosophie“ vom SRF diskutiert über die Aktualität von Friedrich Dürrenmatt.
Die quantenphysikalischen Hintergründe zur sogenannten „Weltformel“, die Johann Wilhelm Möbius in „Die Physiker“ vermeintlich gefunden hat, werden in einem Beitrag der Arte-Reihe „42 – Die Antwort auf alles“ erläutert.
Der Podcast „Tech Bro Topia“ vom Deutschlandfunk gibt einen Überblick über das Denken der führenden Köpfe im Silicon Valley. Dabei werden die zentralen Begriffe wie Akzelerationismus und Longtermismus hergeleitet und der ideologische „Vibe Shift“ nach rechts dieser Tech-Elite unter die Lupe genommen. In Bezug auf „Die Physiker“ sind besonders sind die Folgen 3 (Der Wille des Universums) und 4 (Sith-Lords auf Speed) zu empfehlen.
Im Podcast „Die Peter Thiel Story“ vom Deutschlandfunk wird dem Denken und der Ideologie von einem der wichtigsten Strippenzieher hinter US-Präsident Donald Trump und besonders seinem Vize JD Vance nachgegangen: Tech-Investor Peter Thiel. Insb. Folge 6 (Antichrist) veranschaulicht, welche Allmachtsfantasien es in der MAGA-Bewegung gibt und wie sie sich herleiten.
Der Philosoph und Mathematiker Rainer Mühlhoff beschreibt in einem Interview mit der Rheinischen Post, wie Künstliche Intelligenz an sensiblen Stellen eines Staates, wie z. B. momentan in den USA, zu einem Werkzeug eines aufkommenden Faschismus werden.