DIGITALES PROGRAMMHEFT
Regisseurin Bettina Jahnke im Gespräch
Das Lachen der Verzweiflung
Regisseurin Bettina Jahnke im Gespräch über ihre Inszenierung von „Der zerbrochne Krug“
Heinrich von Kleist hat sich selbst als „Unzeitgemäßer“ beschrieben. Was fasziniert dich an ihm?
Er versucht die Welt zu verstehen, indem er auf die Schmerzpunkte geht. In jeder seiner Figuren steckt ein existentielles Drama; sie wollen über die eigenen Grenzen hinausgehen und scheitern gleichzeitig an ihnen und an der Gesellschaft, immer wieder. Scheitern, Kaputtgehen. Wieder aufstehen. Weitermachen. Das ist für mich der Kleist und da trifft er uns natürlich – mich auch – mitten ins Herz.
Was macht den „Zerbrochnen Krug“ für dich aktuell?
Mich hat interessiert, mit welcher Dreistigkeit und Selbstverständlichkeit der Richter lügt und damit überaus erfolgreich ist. Diese Normalisierung des Lügens fasziniert und schockiert mich gleichermaßen. Wenn im Zweifel alles nur „fake news“ ist, was meiner Sache nicht dient, wird das Lügen dann zum gesellschaftlich anerkannten Mittel?
In welcher Welt spielt deine Inszenierung?
Ich wollte aus dem dörflichen Setting des Stücks raus und den Blick aufs Wesentliche schärfen. Die weiße Bühne ist für mich Gerichtssaal und Ort der Aufklärung; die Idee, dass es einen neutralen Raum gibt, der Menschen hilft, Gerechtigkeit zu erfahren. Aber wo bleibt Gerechtigkeit, wenn am Ende jedes Problem über Deals gelöst werden kann? Gerade jetzt, wo sich die Kultur der „Bros“, der Männerbünde, die im Zweifel auch über moralische und juristische Grenzen hinweg agieren, wieder etabliert, bekommt der Kleist für mich eine brennende Aktualität.
Diese „Bro-Culture“ ist ein wesentliches Element für deine Lesart. Wie zeigt sich das im Stück?
Mich beschäftigt die Rückkehr dieser konservativen, toxischen Männlichkeitsbilder sehr. Das Verletzliche, das Infrage stellen der Welt ist wieder im Bereich des „Femininen“ und auch ein Kleist hat übrigens darunter gelitten, dem damaligen Männlichkeitsideal nicht zu entsprechen. Der aggressive Alpha-Mann, der die Realität nach seinem Willen formt, wird zum Erfolgsmodell. Die Selbstverständlichkeit, mit der Adam seine Tat leugnet und die Konsequenzen umgehen will, hat mich sehr daran erinnert.
Der Richter Adam ist gleichzeitig eine der bekanntesten Komödienfiguren – wie seid ihr in der Arbeit damit umgegangen?
Adam ist bereits zu Beginn offensichtlich Täter und versucht das konstant zu vertuschen. Natürlich hat das komische Züge, aber die haben uns nicht primär interessiert. Der Adam windet sich bei uns nicht lustig-trickreich aus der Sache. Er manipuliert mit einer krassen Selbstgefälligkeit und macht sein Problem zu dem der anderen. Der Schaden, den er dabei hinterlässt, ist ihm egal.
Der „Krug“ ist auch eine Geschichte über Missbrauch.
Absolut und der Missbrauch, der Eve geschieht, wurde lange nur peripher beleuchtet. Als ich das Stück gelesen habe, ging gerade der Prozess mit Gisèle Pelicot los und ihr Satz „Die Scham muss die Seiten wechseln“ wurde zum Slogan. Das ist eigentlich auch bei Kleist zentral. Er behandelt die Fragen von Heute: Wie justiziabel ist ein sexueller Missbrauch, wenn die Frauen nicht sprechen? Oder aber kein Recht bekommen, weil Aussage gegen Aussage steht?
Eve steht als Opfer ziemlich allein da; weder ihre Mutter noch ihr Verlobter glauben ihr.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In diesem Leitgedanken ist aber die Frage schon enthalten, die sich alle Frauen vor Gericht in irgendeiner Weise gefallen lassen müssen: Hat sie es nicht selbst– unbewusst, bewusst – herbeigeführt? Das geht bei der Kleidung los und endet bei Karrieregründen.
Wie kann diese Spirale durchbrochen werden?
Wir müssen zeigen, was dieses Verhalten bewirkt. Dann können wir vielleicht einen Bewusstseinswandel erreichen. Also, ich wüsste nicht wie sonst. Trump, Epstein, Weinstein – sie alle bleiben uns trotz der medialen Überpräsenz doch irgendwie fern. Aber so wie Arne Lenk die Mechanismen eines Adam zeigt, erkenne ich seine Verhaltensweisen vielleicht plötzlich bei meinem Freund, bei meinem Bruder auf der Familienfeier; bei meinem Vater darin, wie er mit meiner Mutter umgeht, oder auch mit mir – vielleicht bin ich auch schon längst drin in dieser Dynamik ohne es vorher gesehen zu haben. Genau deswegen ist ja #metoo entstanden, weil so viele Frauen gesehen und gesagt haben: Ich auch.
Ihr spielt den „Variant“, das ursprüngliche Stückende, in dem Eve von ihrem Missbrauch durch den Richter erzählt. Allerdings ohne das „Unsagbare“ zu benennen.
Das ist der berühmte Kleistsche Gedankenstrich, er kann eine ganze Welt erzählen. Uns war wichtig, die Reaktion des Umfeldes zu beleuchten. Eve wird nicht geglaubt, sie wird vor Gericht diskreditiert und moralisch verurteilt. Die Einsamkeit nach der Tat ist mindestens genauso schlimm wie die Tat selbst. Sie fängt an, sich selbst nicht mehr zu glauben. Und da beginnt auch das Schweigen.
Sprechen und Schweigen sind im „Krug“ existentiell. Sprache ist vor Gericht Mittel zur Wahrheitsfindung – und gleichzeitig durch die Lüge perfektes Täuschungsmittel.
Das ist die bittere Komik, die darin steckt. Da sind wir vielleicht beim Kleistschen Lustspiel, wie ich es verstehe – nicht über die Figuren, sondern das Lachen über eine ausweglose Situation. Das Lachen der Verzweiflung.
Das Gespräch führte Sina Katharina Flubacher.
Er versucht die Welt zu verstehen, indem er auf die Schmerzpunkte geht. In jeder seiner Figuren steckt ein existentielles Drama; sie wollen über die eigenen Grenzen hinausgehen und scheitern gleichzeitig an ihnen und an der Gesellschaft, immer wieder. Scheitern, Kaputtgehen. Wieder aufstehen. Weitermachen. Das ist für mich der Kleist und da trifft er uns natürlich – mich auch – mitten ins Herz.
Was macht den „Zerbrochnen Krug“ für dich aktuell?
Mich hat interessiert, mit welcher Dreistigkeit und Selbstverständlichkeit der Richter lügt und damit überaus erfolgreich ist. Diese Normalisierung des Lügens fasziniert und schockiert mich gleichermaßen. Wenn im Zweifel alles nur „fake news“ ist, was meiner Sache nicht dient, wird das Lügen dann zum gesellschaftlich anerkannten Mittel?
In welcher Welt spielt deine Inszenierung?
Ich wollte aus dem dörflichen Setting des Stücks raus und den Blick aufs Wesentliche schärfen. Die weiße Bühne ist für mich Gerichtssaal und Ort der Aufklärung; die Idee, dass es einen neutralen Raum gibt, der Menschen hilft, Gerechtigkeit zu erfahren. Aber wo bleibt Gerechtigkeit, wenn am Ende jedes Problem über Deals gelöst werden kann? Gerade jetzt, wo sich die Kultur der „Bros“, der Männerbünde, die im Zweifel auch über moralische und juristische Grenzen hinweg agieren, wieder etabliert, bekommt der Kleist für mich eine brennende Aktualität.
Diese „Bro-Culture“ ist ein wesentliches Element für deine Lesart. Wie zeigt sich das im Stück?
Mich beschäftigt die Rückkehr dieser konservativen, toxischen Männlichkeitsbilder sehr. Das Verletzliche, das Infrage stellen der Welt ist wieder im Bereich des „Femininen“ und auch ein Kleist hat übrigens darunter gelitten, dem damaligen Männlichkeitsideal nicht zu entsprechen. Der aggressive Alpha-Mann, der die Realität nach seinem Willen formt, wird zum Erfolgsmodell. Die Selbstverständlichkeit, mit der Adam seine Tat leugnet und die Konsequenzen umgehen will, hat mich sehr daran erinnert.
Der Richter Adam ist gleichzeitig eine der bekanntesten Komödienfiguren – wie seid ihr in der Arbeit damit umgegangen?
Adam ist bereits zu Beginn offensichtlich Täter und versucht das konstant zu vertuschen. Natürlich hat das komische Züge, aber die haben uns nicht primär interessiert. Der Adam windet sich bei uns nicht lustig-trickreich aus der Sache. Er manipuliert mit einer krassen Selbstgefälligkeit und macht sein Problem zu dem der anderen. Der Schaden, den er dabei hinterlässt, ist ihm egal.
Der „Krug“ ist auch eine Geschichte über Missbrauch.
Absolut und der Missbrauch, der Eve geschieht, wurde lange nur peripher beleuchtet. Als ich das Stück gelesen habe, ging gerade der Prozess mit Gisèle Pelicot los und ihr Satz „Die Scham muss die Seiten wechseln“ wurde zum Slogan. Das ist eigentlich auch bei Kleist zentral. Er behandelt die Fragen von Heute: Wie justiziabel ist ein sexueller Missbrauch, wenn die Frauen nicht sprechen? Oder aber kein Recht bekommen, weil Aussage gegen Aussage steht?
Eve steht als Opfer ziemlich allein da; weder ihre Mutter noch ihr Verlobter glauben ihr.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In diesem Leitgedanken ist aber die Frage schon enthalten, die sich alle Frauen vor Gericht in irgendeiner Weise gefallen lassen müssen: Hat sie es nicht selbst– unbewusst, bewusst – herbeigeführt? Das geht bei der Kleidung los und endet bei Karrieregründen.
Wie kann diese Spirale durchbrochen werden?
Wir müssen zeigen, was dieses Verhalten bewirkt. Dann können wir vielleicht einen Bewusstseinswandel erreichen. Also, ich wüsste nicht wie sonst. Trump, Epstein, Weinstein – sie alle bleiben uns trotz der medialen Überpräsenz doch irgendwie fern. Aber so wie Arne Lenk die Mechanismen eines Adam zeigt, erkenne ich seine Verhaltensweisen vielleicht plötzlich bei meinem Freund, bei meinem Bruder auf der Familienfeier; bei meinem Vater darin, wie er mit meiner Mutter umgeht, oder auch mit mir – vielleicht bin ich auch schon längst drin in dieser Dynamik ohne es vorher gesehen zu haben. Genau deswegen ist ja #metoo entstanden, weil so viele Frauen gesehen und gesagt haben: Ich auch.
Ihr spielt den „Variant“, das ursprüngliche Stückende, in dem Eve von ihrem Missbrauch durch den Richter erzählt. Allerdings ohne das „Unsagbare“ zu benennen.
Das ist der berühmte Kleistsche Gedankenstrich, er kann eine ganze Welt erzählen. Uns war wichtig, die Reaktion des Umfeldes zu beleuchten. Eve wird nicht geglaubt, sie wird vor Gericht diskreditiert und moralisch verurteilt. Die Einsamkeit nach der Tat ist mindestens genauso schlimm wie die Tat selbst. Sie fängt an, sich selbst nicht mehr zu glauben. Und da beginnt auch das Schweigen.
Sprechen und Schweigen sind im „Krug“ existentiell. Sprache ist vor Gericht Mittel zur Wahrheitsfindung – und gleichzeitig durch die Lüge perfektes Täuschungsmittel.
Das ist die bittere Komik, die darin steckt. Da sind wir vielleicht beim Kleistschen Lustspiel, wie ich es verstehe – nicht über die Figuren, sondern das Lachen über eine ausweglose Situation. Das Lachen der Verzweiflung.
Das Gespräch führte Sina Katharina Flubacher.
Gedanken zum Stück – ein Versuch
Aus aller Ordnung fallend
Gedanken zum Stück – ein Versuch
Vorab ein Geständnis.
Es erfordert einigen Mut für das Folgende, denn nie zuvor habe ich die (eigene) Erwartungshaltung an einen Text fürs Programmheft derart unterlaufen. Hier sollte eigentlich ein Essay über Entstehung und Motive von Kleists „Der zerbrochne Krug“ zu lesen sein. Mehr oder weniger kluge Gedanken der Dramaturgin, die Werk, Autor und künstlerischen Zugriff darauf einordnet. Ich sollte hier also über Kleists Biografie als Ruheloser schreiben, über den ehemaligen Gefreiten, der den Staatsdienst beim Militär ebenso unerträglich fand wie jedes andere Amt.
Sie sollten etwas lesen über Kleists kritisches Verhältnis zur Justiz und zur Bürokratie. Über die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich in seinem Werk zeigen, und wie auch der „Krug“ einen reformatorischen Umbruch atmet, der bis in die Moderne reicht, weil zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Richter zum Berufsrichter aufstieg; also von der Person zur neutralen Institution wurde und eigene Meinungen bis hin zu menschlichen Fehlern keinen Platz haben durften.
Sie würden geschliffene Sätze über Kleists Verhältnis zur Sprache lesen, die gekonnt mit dem Verschwimmen von Bildlichem und Unbildlichem spielt, und etwas über seine immense Skepsis gegenüber des Begriffs Wahrheit, nachdem er Kant gelesen hatte.
Hier würde auch stehen, dass Kleist den „Zerbrochnen Krug“ aufgrund eines Dichterwettstreits schrieb, das Motiv eines zufälligen niederländischen Gemäldes vor Augen, eine Gerichtsszene zeigend. Sie würden lesen, dass Kleist in einer später verfassten Vorrede zum „Krug“ den Richter und den Gerichtsschreiber dieser Szene mit Ödipus und Kreon verglich und spätestens hier würde es intellektuell total losgehen und es gäbe ein Für und Wider, ob das Stück nun als Komödie oder antike Tragödie gemeint war; also als ein umgekehrter „Ödipus“, weil Richter Adam im Gegensatz zu Ödipus ja weiß, was er getan hat und unfassbar dreist versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen, während Ödipus sich am Ende die Augen aussticht.
Ich würde Sie darauf aufmerksam machen, wie kunstvoll Kleist Wahrheit und Lüge nebeneinander laufen lässt und wie bedeutend sowohl Sprechen als auch Schweigen im Stück sind. Natürlich würde ich Sie dann auf die sprechenden Namen hinweisen: Adam & Eve und der Sündenfall, der Adam „über sich selbst“ stolpern lässt. Der Gerichtsschreiber, der nicht umsonst Licht heißt, weil ihm selbiges recht früh aufgeht im Taktikgewitter seines Vorgesetzten. Gerichtsrat Walther, der angelehnt an die althochdeutsche Herkunft seines Namens über Gerechtigkeit und Schicksale waltet, ja herrscht…
Sie würden lesen, dass Goethe die Uraufführung des Stücks verhunzte, weil er sich der Geschlossenheit des Einakters widersetzte und den „Krug“ in drei Akte à la Tragödie unterteilte und ohne große Striche spielte, was bei allem Respekt vor Weltliteratur noch nie eine gute Idee war. Und sie würden lesen, dass Kleist nach dieser missglückten Inszenierung, für die er Goethe zum Duell fordern wollte, einen neuen Schluss schrieb und seine Eve damit über die Klinge springen ließ, weil sie sich weder traut den Missbrauch durch den Richter anzuklagen, noch ihren toxisch eifersüchtigen Verlobten in den Wind zu schießen. Der ursprüngliche Schluss, der als „Variant“ in die Literaturgeschichte einging und politische Sprengkraft besitzt, zeigt aber etwas Anderes. Hier steht eine junge Frau, die ihre Stimme erhebt, eine Frau, die ihren Vergewaltiger anklagt und die dafür vor Gericht diskreditiert, moralisch verurteilt und in Frage gestellt wird, als wäre das einem der zeitgenössischen Gerichtsprozesse um Weinstein, Epstein, Trump, Depardieu, Johnny Depp, etc. entlehnt (ergänzen Sie die Liste gern selbständig). Hier steht auch eine junge Frau, die Korruption und Lügen einer Regierung anklagt; einer Regierung, die ihre jungen Männer für die angebliche Landesverteidigung einzieht, um sie dann für militärische Eroberungen nach Ost-Indien zu schicken. 1808 erhob eine junge Schauspielerin am Weimarer Hoftheater als Eve dagegen ihre Stimme, als Stimme aller Frauen, während das Publikum vor Langeweile gähnte.
Kleist war seiner Zeit voraus.
Thomas Mann schrieb über ihn als einen Dichter, der „völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend“ sei und so ist er in die Weltliteratur eingegangen: als Unangepasster. Als ein Dichter, der seine Figuren in ihrer Zerrissenheit, ihrem inneren Widerspruch zeichnet, so präzise, so zeitlos, dass sie ohne Mühe ins Heute gesetzt werden können. Sein Blick auf die Verhältnisse hat systemsprengende Kraft. Über Kleists Suche nach Halt ist viel geschrieben worden und vielleicht war er uns nie näher als heute, in einer Welt, deren Berechenbarkeit abhandengekommen ist, in seiner Suche nach einem Lebensentwurf, der in diese Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten passt.
Nicht mehr und auch nicht weniger würde ich Ihnen sagen. Und Sie einladen, Kleist zu entdecken und sich von ihm ins Herz treffen zu lassen.
Sina Katharina Flubacher
Es erfordert einigen Mut für das Folgende, denn nie zuvor habe ich die (eigene) Erwartungshaltung an einen Text fürs Programmheft derart unterlaufen. Hier sollte eigentlich ein Essay über Entstehung und Motive von Kleists „Der zerbrochne Krug“ zu lesen sein. Mehr oder weniger kluge Gedanken der Dramaturgin, die Werk, Autor und künstlerischen Zugriff darauf einordnet. Ich sollte hier also über Kleists Biografie als Ruheloser schreiben, über den ehemaligen Gefreiten, der den Staatsdienst beim Militär ebenso unerträglich fand wie jedes andere Amt.
Sie sollten etwas lesen über Kleists kritisches Verhältnis zur Justiz und zur Bürokratie. Über die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich in seinem Werk zeigen, und wie auch der „Krug“ einen reformatorischen Umbruch atmet, der bis in die Moderne reicht, weil zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Richter zum Berufsrichter aufstieg; also von der Person zur neutralen Institution wurde und eigene Meinungen bis hin zu menschlichen Fehlern keinen Platz haben durften.
Sie würden geschliffene Sätze über Kleists Verhältnis zur Sprache lesen, die gekonnt mit dem Verschwimmen von Bildlichem und Unbildlichem spielt, und etwas über seine immense Skepsis gegenüber des Begriffs Wahrheit, nachdem er Kant gelesen hatte.
Hier würde auch stehen, dass Kleist den „Zerbrochnen Krug“ aufgrund eines Dichterwettstreits schrieb, das Motiv eines zufälligen niederländischen Gemäldes vor Augen, eine Gerichtsszene zeigend. Sie würden lesen, dass Kleist in einer später verfassten Vorrede zum „Krug“ den Richter und den Gerichtsschreiber dieser Szene mit Ödipus und Kreon verglich und spätestens hier würde es intellektuell total losgehen und es gäbe ein Für und Wider, ob das Stück nun als Komödie oder antike Tragödie gemeint war; also als ein umgekehrter „Ödipus“, weil Richter Adam im Gegensatz zu Ödipus ja weiß, was er getan hat und unfassbar dreist versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen, während Ödipus sich am Ende die Augen aussticht.
Ich würde Sie darauf aufmerksam machen, wie kunstvoll Kleist Wahrheit und Lüge nebeneinander laufen lässt und wie bedeutend sowohl Sprechen als auch Schweigen im Stück sind. Natürlich würde ich Sie dann auf die sprechenden Namen hinweisen: Adam & Eve und der Sündenfall, der Adam „über sich selbst“ stolpern lässt. Der Gerichtsschreiber, der nicht umsonst Licht heißt, weil ihm selbiges recht früh aufgeht im Taktikgewitter seines Vorgesetzten. Gerichtsrat Walther, der angelehnt an die althochdeutsche Herkunft seines Namens über Gerechtigkeit und Schicksale waltet, ja herrscht…
Sie würden lesen, dass Goethe die Uraufführung des Stücks verhunzte, weil er sich der Geschlossenheit des Einakters widersetzte und den „Krug“ in drei Akte à la Tragödie unterteilte und ohne große Striche spielte, was bei allem Respekt vor Weltliteratur noch nie eine gute Idee war. Und sie würden lesen, dass Kleist nach dieser missglückten Inszenierung, für die er Goethe zum Duell fordern wollte, einen neuen Schluss schrieb und seine Eve damit über die Klinge springen ließ, weil sie sich weder traut den Missbrauch durch den Richter anzuklagen, noch ihren toxisch eifersüchtigen Verlobten in den Wind zu schießen. Der ursprüngliche Schluss, der als „Variant“ in die Literaturgeschichte einging und politische Sprengkraft besitzt, zeigt aber etwas Anderes. Hier steht eine junge Frau, die ihre Stimme erhebt, eine Frau, die ihren Vergewaltiger anklagt und die dafür vor Gericht diskreditiert, moralisch verurteilt und in Frage gestellt wird, als wäre das einem der zeitgenössischen Gerichtsprozesse um Weinstein, Epstein, Trump, Depardieu, Johnny Depp, etc. entlehnt (ergänzen Sie die Liste gern selbständig). Hier steht auch eine junge Frau, die Korruption und Lügen einer Regierung anklagt; einer Regierung, die ihre jungen Männer für die angebliche Landesverteidigung einzieht, um sie dann für militärische Eroberungen nach Ost-Indien zu schicken. 1808 erhob eine junge Schauspielerin am Weimarer Hoftheater als Eve dagegen ihre Stimme, als Stimme aller Frauen, während das Publikum vor Langeweile gähnte.
Kleist war seiner Zeit voraus.
Thomas Mann schrieb über ihn als einen Dichter, der „völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend“ sei und so ist er in die Weltliteratur eingegangen: als Unangepasster. Als ein Dichter, der seine Figuren in ihrer Zerrissenheit, ihrem inneren Widerspruch zeichnet, so präzise, so zeitlos, dass sie ohne Mühe ins Heute gesetzt werden können. Sein Blick auf die Verhältnisse hat systemsprengende Kraft. Über Kleists Suche nach Halt ist viel geschrieben worden und vielleicht war er uns nie näher als heute, in einer Welt, deren Berechenbarkeit abhandengekommen ist, in seiner Suche nach einem Lebensentwurf, der in diese Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten passt.
Nicht mehr und auch nicht weniger würde ich Ihnen sagen. Und Sie einladen, Kleist zu entdecken und sich von ihm ins Herz treffen zu lassen.
Sina Katharina Flubacher
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Wer nicht lesen will, kann hören!
Was genau heißt eigentlich „bro-culture“? Die Autorin Teresa Präauer im Gespräch über das Phänomen und wie es unsere Sprache prägt:
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