Zwischen Realität und Fiktion

Zur Bühnenhandlung und Stückfassung
Die Geschehnisse nehmen ihren Anfang im Deutschland der 1930er Jahre, bewegen sich in Zeitsprüngen mehr oder weniger chronologisch durch die ostdeutsche Geschichte bis in die 1990er Jahre hinein und orientieren sich dabei an der Biografie von Christa Wolf. Historische Ereignisse, Versatzstücke aus der Populär- und Alltagskultur sowie literarische Texte und Figuren aus dem Werk von Christa Wolf ergeben einen eigenen poetischen Kosmos. Die Aufführung will keine Geschichts-Doku sein und geht deshalb vergleichsweise frei mit den historischen Fakten um. Darin folgt sie Christa Wolfs poetischer Methode „wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung“.
Weil also in Christa Wolfs autofiktionalen Texten Biografisches und Zeitgeschichte ineinander „verschmolzen“ sind, greift die Stückfassung von Sascha Hawemann auf diese Texte zurück, um in Fragmenten die Geschichte eines Lebens zu erzählen, die auch die Geschichte eines Landes ist. Dabei entsprechen die Namen unserer Theaterfiguren zum Teil wirklichen Personen, zum Teil auch den fiktiven Namen aus Prosatexten von Christa Wolf. Die Namensgebung ist bewusst als changierendes, oszillierendes, nicht streng logisches Wechselspiel gestaltet.
Die Stückfassung verwendet Passagen aus folgenden literarischen Wolf-Werken: „Moskauer Novelle“ (erschienen 1961), „Der geteilte Himmel“ (ersch. 1963). „Nachdenken über Christa T.“ (ersch. 1968), „Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film“ (gemeinsam mit Gerhard Wolf, ersch. 1973) „Kindheitsmuster“ (ersch. 1976), „Kein Ort. Nirgends“ (ersch. 1979), „Störfall“ (ersch. 1987), „Sommerstück“ (ersch.1989), „Medea. Stimmen“ (ersch. 1996), „Er und ich“ (Erzählung, ersch. 1998), „Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet sie für ein Essen vor“ (Erzählung, ersch. 2003). Außerdem greift die Textfassung in größerem Umfang auf Christa Wolfs Tagebuch-Projekt „Ein Tag im Jahr. 1960-2000“ (ersch. 2003) zurück. Sie verwendet auch Passagen aus den Essays „Lesen und Schreiben“ (ersch. 1972) und „Ein Modell einer anderen Art“ (1987). Zudem wird aus Christa Wolfs berühmter Rede „Sprache der Wende – Rede auf dem Alexanderplatz“ (4.November 1987) zitiert.

Intensivierung von Leben

Gedanken zum Stück
Der Bruch in ihr ist die Brücke zum mir“ – Es ist ein seltsamer, fast paradoxer Gedanke, der Christa Wolf 1987 bei einem Museumsbesuch am Schwarzen Meer in der Begegnung mit der Statue einer archaischen Göttin durch den Kopf geht: Ein Bruch als Brücke? In dem geheimnisvollen, von Rissen gezeichneten Urbild einer Weiblichkeit aus fremden, lang vergangenen Zeiten entdeckt sie das Vertraute. Ihre Kindheit und Jugend dagegen war vor allem von Bildern beeinflusst, die klare, eindeutige Botschaften propagierten. So ließ sie sich als Mädchen zunächst vom Hitler-Regime blenden. Der Schock über diese Verirrung machte sie zur überzeugten Antifaschistin. Doch auch die im DDR-Sozialismus herrschenden, dogmatisch verordneten, normierten Bilder von Realität wurden ihr bald verdächtig. Denn eine Konstante ihres Daseins ist das unerbittliche Ringen um Wahrhaftigkeit.
Zu einer Art Echolot bei diesem Ringen wurde für sie das Schreiben literarischer Texte. Bahnbrechend an ihrem neuen Schreibstil „subjektiver Authentizität“ war, dass er ein Subjekt voraussetzt, „das bereit ist, sich seinem Stoff rückhaltlos zu stellen, das Spannungsverhältnis auf sich zu nehmen, das dann unvermeidlich wird. Auf die Verwandlungen neugierig zu sein, die Stoff und Autor dann erfahren. Man sieht eine andere Realität als zuvor. Plötzlich hängt alles mit allem zusammen und ist in Bewegung.“ So drückt Christa Wolf es in dem Essayband „Lesen und Schreiben“ aus. Dieser neue Blick auf Wirklichkeit führt zu Bildern von Welt, die nicht kompatibel sind mit einfachen Antworten, Losungen und Lösungen. Zu Bildern, die lineare Zeitstrukturen hinterfragen: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Zu Wirklichkeitsbildern, die auch die Dimensionen von Traum und Phantasie einbeziehen. Die aber zugleich die konkreten Dinge des Alltags und vermeintlich Profanes höchst aufmerksam im Blick behalten.
Den Ausgangspunkt bildet dabei immer das subjektive Erleben. Und so trägt sich Christa Wolf mit ihren eigenen Erfahrungen selbst in ihre literarischen Figuren ein. Die Ebenen zwischen Realität und Dichtung verschmelzen. Diese poetische Methode der Autofiktionalität hat auch einen dezidiert politischen Aspekt; ja man könnte von einer Ästhetik des Widerstands sprechen: Den patriarchalen Machtstrukturen, die alles zu beherrschen, zu kategorisieren und sich verfügbar zu machen trachten, setzt sie ein Weltverhältnis entgegen, das eine fortwährende Suchbewegung impliziert. Das Widersprüche aushält, statt diese zu retuschieren. Das Brüche produktiv macht, statt zu glätten.
So erzählt auch unser Theaterabend auf eine offene, mehrdeutige Weise von Christa Wolf und ihrer Geschichte in der DDR. Im Spannungsfeld von Realität und Fiktion, von linearer Chronik und assoziativer Bruchstückhaftigkeit entsteht eine Collage aus vielfältigen Wirklichkeitspartikeln, die einander ergänzen oder auch widersprechen und für Irritationen sorgen. In dieser Inszenierung wird Christa Wolf infolgedessen zu einer Theaterfigur, die viele Perspektiven eröffnet und zulässt. Die sich in einem permanenten Schreibprozess befindet und auf diese Weise sich selbst zu verstehen sucht. Die um einen Umgang mit Schuld und Scheitern ringt. Die sich in die politischen Konflikte ihrer Zeit einmischt. Die einen Resonanzraum für die großen gesellschaftlichen Prozesse wie für die profanen, alltäglichen Umstände ihrer Zeit bildet. Die Verantwortung übernimmt und von ihrer Utopie einer besseren, gerechteren, sozialistischen Welt nicht lassen will. Die zwischen Hoffnung und Ernüchterung pendelt.
Unsere Bühnenfigur Christa Wolf trägt neben einem starken Pflichtbewusstsein und Leistungsanspruch auch eine Sehnsucht nach Rausch und Entgrenzung in sich. Dabei hat sie immer wieder mit Krankheit und Depression zu kämpfen. Aus diesen Krisen aber schöpft sie auch ihre kreative Kraft. Schreiben bedeutet für sie Freiheit, eine Intensivierung von Leben, Denken und Handeln. Wesentlich an dieser Figur ist, dass sie nur über ihre Beziehungen, über ihre Verbundenheit zu verstehen ist: zu ihren Zeitgenossen, zu ihren Freundinnen und Freunden und vor allem zu Gerhard Wolf, ihrem Gefährten, ihrem Partner in der Welt der Literatur – der Liebe ihres Lebens.

Christopher Hanf

Christa W. – Stimme eines Landes und eines Lebens

Eine poetische Annäherung an den Stoff von Regisseur Sascha Hawemann
KEIN ORT. NIRGENDS.
Kein Ort. Nirgends. (Persönliches)
Entstanden ist die Idee an einem Nachmittag auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Dort gehe ich manchmal hin, um mich mit Brecht, Weigel, Müller zu unterhalten, sie zu fragen: WAST TUN? Scheint sich die Welt in Kriegen, Raserei und Unvernunft abzuschaffen? – Und stand plötzlich vor dem Grab von Christa Wolf. Am selben Tag las ich wieder „Kein Ort. Nirgends“, von meiner Mutter 1982 aus ihrer feministischen Bibliothek geklaut, sie stand
neben der Beauvoir, der Krupskaja, Susan Sontag. Auf Hiddensee gelesen,das begrenzte Meer vor Augen, bis ich von der Volkspolizei der Insel verwiesen worden bin.
Too much punk.


BLICK ZURÜCK
Die Poetik der Christa Wolf lebt
Im Laufe der Zeit, im Blick zurück,
in der Vergangenheit und
die Feststellung, dass ein Land DDR
kein lebendiger Ort mehr ist, oder auch gern zu einem
Keinort gemacht wird. Dass Leben und Biografien abgetan oder
wie eine zerknüllte Fahrkarte routiniert entwertet werden,
obgleich man in diesem schwierigen unliebbaren KEINORT
lebte und an einem „anderen“ Deutschland arbeitete,
glücklich oder unglücklich, aber in seinen antifaschistischen
Wurzeln anständig, wie es die Autorin verstand, und deswegen
ihr Leben damit verband, mit dem scheinbar besseren Land, dem Neuanfang jenseits von Auschwitz und Herrenmenschen. Ein Hoffnungsland, das zur Bleikammer wurde und damit auch der Traum vom menschlichen Sozialismus.

RÄUME DER ERINNERUNG (Raum und Spiel)
Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt,
das beschrieben wird, sich füllt mit
Mecklenburg, Ostberlin, Schwarzmeerküste,
ZK und Kessel Buntes,
Sommer wie Winter.

Heute bleibt das NIRGENDS im Rückblick auf ein DDR-Leben,
als Feststellung der eigenen Ortlosigkeit bzw. ihres Umzuges in die
Räume der Erinnerung. In diesen Räumen, Orten leben die Texte Christa Wolfs, ein literarischer Abgleich, Echo des eigenen Lebens,
irgendwo zwischen Aufruhr, Rückzug, Reflexion und tiefer Leere und Trauer,
um verlorene Träume und
neue Realitäten, die in ihrer Wirklichkeitsmaschine des profanen Geldmachens, Gelddenkens, Kriegführens zu Unorten und einem
wirklichen Nirgendwo
geschrumpft sind.

CHRONIK (die Form)
Musik der Zeit.
Kostüm der Zeit.
Bilder der Zeit.
Chronik einer Dichterin.
Chronik eines Landes.
Chronik der Frauen.
Christa Wolf.
Sarah Kirsch.
Maxi Wander.
Anna Seghers.
Brigitte Reimann.
Mütter.Schwestern.

In der notierten schriftstellerischen Wirklichkeit,
einer geschriebenen und erlebten DDR bleibt Christa W.
eine tröstende, zweifelnde, oft verzweifelnde Chronistin und erinnerte
Stimme eines Landes und eines Lebens. Geschriebene Erinnerung. Ein Baum, an den man sich kraftlos, mit stillen Sehnsüchten anlehnt. Von dessen Rinden Mann, Frau die Sätze liest, die Störfälle waren oder die eigenen Muster alter Kindheit, in denen die eigene Mutter zur Kassandra wurde, irgendwann Mitte der 80iger, als der Punk nicht dead war,
aber dafür die als besseres Deutschland gedachte DDR sehr
dead dalag.

Sascha Hawemann

(aus: ZUGABE 03 - 25)

Weiterführende Links

Ein prägnantes Radio-Porträt zur Person Christa Wolf findet sich hier:
Christa Wolf – ein biografischer Überblick in Daten
Das Leben und literarische Werk Christa Wolfs wird in diesem lesenswerten Nachruf gewürdigt:
Kurze, überblicksartige Informationen zu verschiedenen Büchern und Texten von Christa Wolf sind hier nachzulesen:
Ein Mitschnitt von Christa Wolfs berühmter, großer Rede am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz findet sich hier:
Gerhard Wolf, der Ehemann von Christa Wolf, spielt als ihr wichtigster Partner im Leben und in der Welt der Literatur auch eine wesentliche Rolle in unserer Theateraufführung. In einem langen, interessanten Interview erzählt er von sich, seiner Beziehung zu Christa Wolf und ihrer gemeinsamen Zeit.
Das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 ist als „Kahlschlag-Plenum“ in die Geschichte eingegangen, weil es erhebliche Auswirkungen auf die Kunstfreiheit der Künstler*innen in der DDR hatte. Auch Christa Wolf, die sich in einer mutigen Rede gegen die repressiven Maßnahmen gestellt hatte, musste in den folgenden Jahren unter Einschüchterung, Zensur und Unterdrückung leiden. Genauere Informationen zu diesen Vorgängen finden sich hier:
Die Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 war ein weiterer einschneidender Einschnitt für Künstler*innen in der DDR. In einem Offenen Brief, den auch Christa und Gerhard Wolf unterzeichnete, bekunden bekannte Persönlichkeit aus der Berliner Kunstszene ihren entschiedenen Protest gegen die Ausbürgerung. Eine interessante, ausführliche Darstellung der zeitgeschichtlichen Umstände finden Sie hier: