Rotpeters Verwandlung

In Kafkas Ein Bericht für eine Akademie spielt Paul Wilms den Affen Rotpeter als Influencer zwischen Identitätsbildung und Anpassungsdruck.
Ein Affe steht vor den „hohen Herren der Akademie“, aufgefordert vom Prozess seiner Mensch-Werdung zu berichten. Dies tut er auch, doch er tut es unter Vorbehalt. Denn eigentlich kann er der Aufforderung in dieser Form nicht nachkommen, zu fremd sei ihm die eigene Geschichte – und ganz gelungen sei der Prozess der Zivilisierung nicht. Er habe auf seinen Eigensinn verzichten müssen, konstatiert er, und damit auch den Sinn für das ihm Eigene eingebüßt. Der aus seiner Heimat, der Goldküste Afrikas, entführte und bei dieser Entführung zweifach verwundete Affe, hört auf den Namen Rotpeter. In der Kunst der Nachahmung zunehmend geschult – er lernt den Handschlag, das aufrechte Gehen, das Trinken und das Rauchen, indem er die Menschen seiner Umgebung imitiert – versichert er sich einer letzten Anmutung von Freiheit und geht ins Varieté. So entkommt er dem Zoologischen Garten und neuen Gitterstäben. Ein Leidender wird so, um zu überleben, ein Künstler. Doch der „Ausweg“ in das Mensch-Sein steht im krassen Gegensatz zu der tierischen Freiheit, die er aufgeben muss und für die er in der Menschenwelt keine Entsprechung finden kann.

Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“, ist 1917 erstmals veröffentlicht worden. Zu dieser Zeit konnte man in den Varietés Prags gezähmte Tiere anschauen gehen, die die Pfote gaben, Rechenaufgaben zu lösen schienen oder tanzten, Zoologische Gärten hatten Konjunktur in ganz Europa. Nachweislich hegte Kafka eine Faszination für diese Formen der Unterhaltung und war mit diesem Interesse auf der Höhe seiner Zeit. Bereits als Schüler las er Darwin und konnte sich für den wissenschaftlichen Diskurs zu sprechenden Tieren begeistern. Es gibt von ihm mehrere
Texte, in denen er mit großer Einfühlung und Humor aus der Perspektive zivilisierter oder vermenschlichter Tiere schreibt.

Der Bericht des Affen, der nun als „Zivilisierter“ sprechen soll, ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit dieser Gewalt, die in der Erziehung sowie der Dressur verborgen liegt. So stellt der Text tiefgreifende Fragen zu den Themen Selbstentfremdung und den Preis der Anpassung an gesellschaftliche Normen.
Weil der Affe Rotpeter ein „Entertainer“ wird, kann er nie zu einem den anderen ebenbürtigen Menschen aufrücken. Er muss sich „in die Büsche schlagen“, wie die merkwürdige Seitwärtsbewegung heißt, die Kafkas Affe auf der Suche nach einer der Welt standhaltenden Form von Identität beschreibt.

In Anna Michelle Herchers Inszenierung trifft die Erzählung Kafkas auf Fragen der heutigen digitalen Ära. Rotpeter wird hier zum Influencer, der seiner Followerschaft berichtet. Umgeben von Spiegeln und verfolgt von einer sich um ihn bewegenden Kamera, versucht er, sich aus den Vorstellungen von seinem Selbst zu befreien, die er selbst miterschaffen hat. Doch wie authentisch ist sein Schmerz? Wo zwischen Identitätsbildung und Anpassungsdruck, liegt überhaupt das Selbst dieses Affen verborgen? Ist sein Gesicht echt oder bloß ein digital erzeugter Filter?

Emma Charlott Ulrich [erschienen in ZUGABE MAGAZIN 02-2025]

DIE REGISSEURIN ANNA MICHELLE HERCHER IM INTERVIEW

Was hat dich inspiriert, den Rotpeter als Influencer zu denken?
Ich habe in dem Text eine sehr große Einsamkeit gelesen. Rotpeter ist für mich eine Figur, die unter sehr großem Anpassungsdruck leidet und auf viel Bestätigung von außen angewiesen ist, um zu funktionieren. Eine Figur, die sich eigentlich nach der Freiheit sehnt, einfach zu existieren und nichts beweisen zu müssen. Ich habe darin den Anpassungsdruck und den Selbstinszenierungszwang meiner eigenen Generation, der Generation Y aber auch der Generation Z gelesen. Wir versuchen anders zu sein und sind dadurch sehr gleich.

Ist Rotpeters Weg für dich eine Unterwerfung oder eine Befreiung?
Der Text ist für mich der Versuch einer Befreiung, die aber misslingt. Die ultimative Befreiung wäre es, wieder Affe zu werden, also sich aus dem Cyberspace zurückzuziehen. In der heutigen Zeit ist die reale Welt mit der digitalen Welt komplett vermischt. Es gibt fast keine Menschen mehr, die nicht in der einen oder anderen Form einen digitalen Fußabdruck haben. Genauso aussichtslos ist es für Rotpeter, wieder zum Affentum zurückzufinden. Rotpeter ist sich aber auch nicht sicher, ob er das wirklich möchte, da er keine Erinnerung an sein Leben als Affe hat. Er idealisiert etwas, von dem er nicht weiß, ob es ihn glücklich machen würde.

Inwiefern ist deine Interpretation eine Aktualisierung von Kafkas „Bericht für eine Akademie“?
Durch die Form des Abends könnte man denken, dass es sich hier um eine Aktualisierung handelt. Rotpeter erzählt seine Geschichte in einem Livestream, wie sie bei TikTok und Instagram stattfinden. Der Text selbst bleibt aber nahezu unverändert, was die Zeitlosigkeit des Texts unterstreicht. Ob der Vortrag vor einer „Hohen Akademie“ oder digital vor tausenden von Followern stattfindet, ist beinahe das Gleiche. Einsamkeit ist universell.

Welche Rolle nimmt das Publikum in deiner Inszenierung ein?
Das Publikum befindet sich wie hinter einer vierten Wand und sieht Rotpeter immer mindestens doppelt: einmal hautnah, sich verausgabend auf der Bühne und einmal im Livestream. Da im Livestream das Publikum direkt angesprochen wird, kann es sich anfühlen, als würde Rotpeter es auch sehen, es eventuell sogar kennen, es meinen. Rotpeter sieht aber während des ganzen Livestreams nur sich selbst.

Interview: Emma Charlott Ulrich

WEITERFÜHRENDE LINKS

Wer war Franz Kafka? Auf dieser mit dem S. Fischer Verlag assoziierten Webseite findet man zu alles zu Kafka und seinem Werk. Kuratiert sind die Texte von Rainer Stach (Kafka-Biograf): www.franzkafka.de

Eine andere Art, Kafkas Werk kennenzulernen, ist dieses vom Goethe Institut entwickelte Computerspiel zu spielen, das auf den Texten „Der Process“, „Das Schloss“ und „Brief an den Vater“ beruht.

Auf Kafkas Spuren in Berlin unterwegs zu sein, ist mit diesen Informationen möglich:
www.jewish-places.de

Die Geschichte Zoologischer Gärten, erzählt aus der Sicht von Tieren:
www.arte.tv

Ich poste, also bin ich? Zur Sternstunde Philosophie über die Influencer-Gesellschaft.

Zur Sternstunde Philosophie mit Lorraine Daston über die Regeln, die unser Leben prägen, regelbasierte Algorithmen und wie diese uns verändern.

Ein Essay über persönliche Freiheit angesichts der Zunahme KI-gesteuerter Inhalte.

Und als kleines Schmankerl am Schluss, Peter Fox und andere Affen in den 20010er Jahren in Berlin unterwegs:
Pt. 1: www.youtube.com/watch?v=GmltubsxyuM
Pt. 2: www.youtube.com/watch?v=NWaEBbmLx2w
Pt. 3: www.youtube.com/watch?v=Kdw6i75bvlQ