Spiel der Identitäten

Regisseur Moritz Peters über "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?"
In Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ treffen zwei Paare aufeinander. Wer sind diese Menschen?
Zwei Akademikerpaare an der Ostküste der USA, die sich in einer red- und alkoholseligen Nacht bis aufs Messer streiten. Alle Vier sind dabei auch Spieler*innen in ihrem eigenen Vexierspiel. Von Lebenslügen belastet, geben sie immer vor, anders zu sein, als sie in Wirklichkeit sind. Sie fühlen nicht, was sie vorgeben zu empfinden, und kämpfen auf je ihre Art an der Aufrechterhaltung einer Lebensfassade, die ihnen Halt und Stärke gibt. Bis die Lebenslügen schmerzhaft ans Licht kommen.

Mit welchen Schlagworten würdest du den Verlauf der Nacht beschreiben?
Spielerisch-lustvoll, rauschhaft-ekstatisch, ernüchternd-erhellend, ehrlich-hart, zumutend-befreiend

Hat dieses 1962 uraufgeführte Stück einen konkreten Bezug zu der britischen Schriftstellerin Virginia Woolf?
Eigentlich nicht. Der Titel geht auf einen Spruch auf einer Toilette zurück, den Edward Albee gelesen hat. Im übertragenen Sinne jedoch schon. Virginia Wolf thematisiert auch die Emanzipation der Frau als eigenständiges Wesen. Die beiden Männer des Stückes, so sehr sie am Anfang im „klassischen Rollenbild“ als die dominanten Personen der Beziehung erscheinen, sind doch vielmehr den Kräften ihrer Frauen und ihren Erzählungen ausgeliefert. Sie scheinen am Ende eher gemeinsam mit ihnen Opfer ihrer selbst. Darin zeigt sich auch die Angst des Mannes vor der starken Frau, was wiederum auf Virginia Woolf verweist. Diese Angst des (vorwiegend männlichen) Akademikerbetriebes vor der intelligenten – und damit ihnen ebenbürtigen - Frau deckt sich mit der Angst der Figuren vor der Aufdeckung ihrer Lebenslüge durch eben diese Frau.

Gibt es Aspekte, die dich gerade heute, gerade jetzt brennend an dem Stoff interessieren?
Wir leben in einem Zeitalter des Kampfes der Identitäten miteinander und des Individuums um eine solche. Jede*r muss sich eine Identität geben, konstruieren, annehmen, oder sich zumindest einer Gruppe anschließen, die sie ihm/ihr im Kollektiv gibt. Das geschlossene dieser Identitäten als Lebenserzählung „wie man sei“, wird im Stück mehrfach gebrochen, hinterfragt, ad absurdum geführt, ohne je zu leugnen, dass der Mensch darauf angewiesen ist, sich eine Identität zu geben, um überhaupt weiter leben zu können.

Sollte ein Paar in der Krise deine Inszenierung besser nicht anschauen?
Doch. Jedes. Wenn sie frisch verliebt sind, sollten sie gemahnt sein, sich nicht so weit in ihren Lügen zu verstricken wie Martha und George. Und wenn sie bereits an diesem Punkt sind, sollten sie den Mut bekommen, sich alles zu erzählen und einen Ausweg aus ihrer Misere zu finden. Wie es Martha und George, zumindest nach meiner Lesart, tun.

Interview: Bettina Jantzen

erschienen in: ZUGABE 03-2022

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