Erkenne die Lage!

Thomas Melle im Gespräch über Wohnen, soziale Fragen, die Unentrinnbarkeit des Marktes und sein neues Stück «Die Lage» (erschienen in Theater heute 6/20)
Franz Wille Hallo, Herr Melle. Schön, dass wir uns in Corona-Zeiten wenigstens über Skype sprechen! Das Video ins Home-Office gibt ja auch immer ganz interessante Einblicke; man sieht, wie der Gesprächspartner wohnt, womit wir auch schon bei Ihrem neuen Stück wären. Bei Ihnen sieht es ja recht Berlin-Altbau-herrlich aus: Stuckdecke, hohe Wände. Gratuliere!
Thomas Melle Ja, und ein Bild von Martin Eder an der Wand. Bücher gibt’s auch wieder! (Lachen.) Bekommen habe ich die Wohnung natürlich über Kontakte. Die Wohnung gehört dem Vater eines Bekannten. Übrigens – Thema Wie-kommt-man-wo-rein – ist mir der Wohnungsschlüssel abgebrochen neulich nachts; der Schlüsseldienst kostete 1300 Euro! Auch deshalb freue ich mich sehr, dass «Theater heute» mein Stück abdruckt.

FW Wann haben Sie denn zum letzten Mal eine Wohnung gesucht?
Melle Hier wohne ich seit 2016: Kreuzberg, Bergmannkiez. Vorher habe ich in Neukölln gewohnt; dafür bin ich allerdings jetzt schon ein bisschen zu alt. Davor war ich in Charlottenburg in einem Obdachlosenheim, wie jeder weiß, der mein Buch «Die Welt im Rücken» kennt. Aber ich sage mir immer ganz unbescheiden: David Foster Wallace ist es auch so ergangen, und George Orwell erst! Zuvor bin ich auch dauernd umgezogen in Berlin, sozusagen zahlender Mietnomade. Erst Wilmersdorf, dann Mitte in einer WG, dann kamen meine, sagen wir, Borderline-Anfälle, und ich bin immer wieder rausgeflogen – oder bin meist gegangen: Prenzlauer Berg, also Prenzlauer Allee, dann Stargarder Straße; dann wieder Kreuzberg, Kottbusser Tor, dann Westend, Neukölln, usw., usf. Insofern ist wirklich viel Erfahrung in «Die Lage» eingeflossen. Es gibt übrigens schon eine frühere Erzählung von mir zum Thema: «Raumforderung» von 2006, und «Die Lage» remixt Teile daraus. Ich zitiere mich ja hin und wieder und auch legitimerweise selbst. Schon damals sammelten sich nämlich die Trauben der Wohnungssuchenden im Hinterhof, und alle wurden freiwillig-unfreiwillig zu Schauspielern ihrer selbst. Im Grunde eine völlig absurde Situation, dabei will man doch nur wohnen.

FW Stichwort «nur wohnen». Früher war Wohnungssuche ein Problem unter vielen; heute, nach der Finanzkrise und dem anschließenden Immobilienboom, zeigt es doch die Probleme einer durchökonomi sier ten Gesellschaft wie im Brennglas. Jeder muss wohnen, und der Markt herrscht mit allen seinen Verdrängungsmechanismen ganz ungeniert.
Melle Die Vorreiter dieser Entwicklung waren die Japaner, wo man sich schon vor Jahren Schlaffächer für eine Nacht mieten konnte, richtige Schubladen. Und heute müssen auch in Deutschland viele die Hälfte ihres Einkommens und mehr dafür bezahlen, dass man einfach nur einen Ort zum Schlafen hat.

FW Im Stück heißt es für Wohnungssuchende an einer Stelle dafür ganz lapidar «man war sich Konkurrenz».
Melle Das ist die Grundvoraussetzung. Und man kann sich dieser Situation nicht entziehen, auch wenn man selbst gerade am Drücker sitzt. Ich habe in einer meiner vielen Stationen, in Neukölln nämlich, einmal einen Nachmieter gesucht, um schneller aus dem Vertrag her auszukommen, und bekam plötzlich von einem Interessenten auch eine Art Bestechungsgeld angeboten. Plötzlich wurde ich selbst zum Makler, was ich nie sein wollte. Das ist das Perfide daran. Der Wohnungseigentümer verlangte, dass alle Bewerber ihre Gehälter offenlegen sollten, und ich war sozusagen sein Agent. Entschuldigung? Das wollte ich doch gar nicht sehen, wie viel der verdient! Am Ende geht’s nur noch ums Geld. Kapitalismus in Reinform.

FW An einer anderen Stelle im Stück heißt es: «Die Miete ist die soziale Frage unserer Zeit.» Der akademische urbane Mittelstand hatte sich ja doch lange Zeit daran gewöhnt, dass die soziale Frage gelöst schien. Man verkämpfte sich lieber auf kulturellen Arenen um Aufmerksamkeit.
Melle Die Drohung, die hinter unter unserem Wohlstand und unseren Eitelkeiten steht, begreift man wirklich erst, wenn man mal auf der Straße gelandet ist. Ich treffe immer eine Obdachlose hier am Marheinekeplatz, und man sieht ihren Sachen an, dass sie sicher auch mal eine schöne Wohnung hatte. Andererseits fragt man sich schon, wo das ganze Geld für millionenteure Townhouses oder schwindelerregende Mieten herkommt. Viel vermutlich aus der Finanz- und Investmentindustrie. Aber auch dem entgeht man in unseren Kreisen nicht: Gestern habe ich mit einem Bühnenbildner gesprochen, der die 5000 Euro Soforthilfe des Berliner Senats in Aktien angelegt hat: der Künstler als Spekulant.

FW Dazu passt aus Ihrem Stück: «Ein freier Markt bestimmt die Zwänge / Weigerung ist sympathisch / Führt aber persönlich in Nichts».
Melle Teilweise ein Blumfeld-Zitat. Gegen die Zwänge der Freiheit kann man sich nicht wehren. Das ist doch das Paradox, in dem wir leben. Furchtbar. Da würde Christian Lindner von der FDP hoffentlich auch zustimmen. Und die SPD, die sich vom Neoliberalismus den Schneid hat abkaufen lassen, sowieso.

FW Ein anderer schöner Themenkomplex in Ihrem Stück ist das Erben. Eigentlich leben wir ja in der Illusion, einer meritokratischen Leistungsgesellschaft anzugehören. Ist natürlich Unsinn, man muss nur auf das Bildungswesen und einschlägige soziale Startvorteile schauen. In noch verschärfterer Form gilt das für Menschen, die dank Erbe finanziell unabhängig sind, und andere, die es eben nicht sind. Auch dem kann niemand entgehen, nicht einmal in Liebesbeziehungen: «Ist die Summe einmal draußen, verschiebt sich alles in einer Beziehung.»
Melle Auch Liebesbeziehungen sind heute durchkapitalisiert. Kann man natürlich gut bei Eva Illouz nachlesen. Das fängt schon im Restaurant an. Jemand muss zahlen, und auch wenn die Frau es nicht erwartet, gibt es so einen Gentleman-Zwang, zu sagen: «Ich lade dich ein.» Und es schwingt schon so ein atavistischer Hintergrund mit, ob der Mann fürs Familiennest sorgen kann. Das Kapital bestimmt auch die Romantik. Die Liebe ist durchsetzt vom Besitz. Für manche ist es dann der größte Stress, das richtige Badesalz zu finden. Und dann natürlich auch wieder Schuldgefühle, dass man diesen ganzen Reichtum nicht selbst verdient hat. Wie gesagt: Es gibt keinen Ausweg aus diesen Widersprüchen. Aber man muss gerecht sein: Auch Erben haben ihre Probleme.

FW Man muss aber auch nicht immer Mitgefühl entwickeln, zum Beispiel für «Leute, die sich über die Gentrifizierung aufregen / aber nicht raffen, dass sie selbst die Gentrifizierung sind.»
Melle Kenne ich auch sehr gut, bin ich selbst oft gewesen. Hier am Mehringdamm, um die Gneisenaustraße herum, jedoch eher nicht, das ist eh bevorzugtes Wohngebiet von alteingesessenen 68ern, deren einst spottbillige Wohnungen jetzt ein Vermögen wert sind. Dazu kaufen alle Bio, Bio, Bio und gießen ihre Blumen, und wenn ich die Musik mal lauter mache, holen sie die Polizei. War es wirklich nur das, was Ihr damals wolltet? Ich schließe mich nicht aus, auch ohne Eigentumswohnung. Habe mir sogar neulich eine Kletterpflanze gekauft.

FW Kaufen Sie auch im Bio-Markt ein?
Melle Nein, um Himmels willen! Und auch kein Netto und kein Aldi – das kenne ich zu Genüge aus schlechten Zeiten. Edeka, Rewe – das ist mein Revier. Nie Bio!

FW Noch eine kleine Pflicht-Frage nach der Dramatiker-Werkstatt. Das Stück mäandert virtuos zwischen vielen Formen: quasinaturalistischer Dialog, Farce, epische Beschreibung, monologische Textfläche, lyrische Passagen. Was ist der Schlüssel? Was bestimmt die Wahl der Mittel?
Melle Die Frage nach der Form: Sowohl die «Ode» als auch die «Die Lage» haben ein einfaches Prinzip – drei Spalten.

FW Beim Lesen: linke Spalte linksbündig gesetzt, rechte Spalte rechtsbündig, Mittelspalte auf Mittel achse ...
Melle ... genau. Ich hatte zuletzt das Gefühl, irgendwas stimmt hier nicht mit meinen Plots, und deshalb wollte ich etwas Neues ausprobieren: subjektloser schreiben, aber auch nicht subjektfrei, sondern tatsächlich hybridere Formen versuchen. «Versetzung» war noch eher filmisch und plotorientiert. Also habe ich mir drei Spalten in meinem Word-Textprogramm gemacht und drauflos geschrieben, was großen Spaß gemacht hat: mal Chor, mal Stimmen, manchmal naturalistisch werden. Was erzählt von unserer Gegenwart, was spricht aus einer gewissen Anonymität heraus, aus der sich dann aber wieder Figuren zusammensetzen und auflösen?

FW Drei Spalten, also eine Form mit maximalem Zwang und maximaler Freiheit.
Melle Ich muss mir selbst Formen vorgeben, um nicht im Alten hängenzubleiben. Ich möchte nicht immer dasselbe machen. Neue Formen!

FW Innovationszwang ist natürlich auch ein marktwirtschaftliches Grundprinzip.
Melle Natürlich, leider. Das Theater ist ein gottverdammter Markt – besonders für Autoren. Dem entgehen wir nicht. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn meine alten Stücke mehr nachgespielt würden. Und jetzt müssen wir leider Schluss machen – meine Waschmaschine piept. Ich wohne schließlich gerade auch. Übrigens hoffe ich, dass sich der Immobilienmarkt und überhaupt unser Existenzmarkt nach der Corona-Krise wieder etwas herunterschrauben. Wir sollten danach jedenfalls versuchen, unsere innere Leere weniger mit Objekten, Räumen und Bankkonten zu füllen, sondern mit – nun, das bleibt abzuwarten und ist wahrscheinlich und hoffentlich hochindividuell. Mit Gottfried Benn gesagt: «Erkenne die Lage.»


Erschienen in Theater heute 6/2020.

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