Der andere Blick

Anna Michelle Hercher inszeniert im Theaterschiff Ismene, Schwester von, einen Monolog von Lot Vekemans, der den „Antigone“-Mythos in neuem Licht erscheinen lässt.
Regisseurin Anna Michelle Hercher: „Mich interessiert, was Ismenes Perspektive der Geschichte ist“. Foto: Alicia Rust
Ohne ihr Regiebuch geht nichts. Darin hält Anna Michelle Hercher alles fest, was bei den Proben passiert, welcher Schauspielende von wo auf die Bühne kommt, welche Requisite wann wo sein muss und sogar, wer wann beim Schlussapplaus auftreten darf. Seit 2020 ist sie Regieassistentin am Hans Otto Theater, und Ordnung, so sagt sie, sei der halbe Job. „Ich finde es sehr befriedigend, wenn alles gut vorbereitet ist.“ Das klappe nicht immer, aber sie habe inzwischen gelernt, sich Fehler zu verzeihen. „Sie sind immer auch ein Lerneffekt.“

Ans Theater wollte sie eigentlich schon immer. „Mein Vater ist Regisseur, überhaupt ist meine Familie väterlicherseits künstlerisch tätig“, erzählt die 29-Jährige. Geboren ist Hercher in Tel Aviv, zog aber mit ihren Eltern bereits als Kleinkind nach Köln und bald danach nach Berlin, wo sie aufwuchs und ihr Studium in Deutscher Philologie und Judaistik absolvierte. Danach ging sie für zwei Jahre ans Theater Ansbach. Inzwischen arbeitet und lebt sie in Potsdam.

So sehr Anna Michelle Hercher die Regieassistenz liebt – sie kann sich ebenso gut vorstellen, irgendwann als Theaterpädagogin zu arbeiten. Oder auch als Regisseurin – und hat in dieser Spielzeit eine erste Gelegenheit, sich darin zu beweisen: Für den Monolog „Ismene, Schwester von“ von der niederländischen Autorin Lot Vekemans, der am 30. November Premiere hat, übernimmt sie die Regie. Das Stück wird zusätzlich zu den anderen 17 Premieren des Hans Otto Theaters aufgenommen und mit Alina Wolff als Ismene im Theaterschiff Potsdam zu sehen sein, das direkt neben dem Großen Haus liegt. „Ich bin sehr aufgeregt, aber bisher ist es eine gute Aufregung“, sagt Hercher.

Die Figur der Ismene begleitet sie schon, seit sie mit ungefähr 16 Jahren Sophokles‘ Tragödie „Antigone“ las. Damals hat sie die Hauptfigur, die sich für ihre Ideale opfert, sehr bewundert. „Aber je älter ich werde, desto mehr verstehe ich auch Ismene, die Antigone aus nachvollziehbaren Gründen nicht unterstützt und Angst vor dem Tod hat“, sagt sie. „Mich hat interessiert, was eigentlich ihre Perspektive der Geschichte ist.“ Genau diese wird in Lot Vekemans‘ Stück erzählt. „Ich muss mir als Regisseurin nun ein Konzept dafür überlegen, beispielsweise, wo Ismene sich während ihres Monologes befindet, und ob sie ihn vielleicht in einer Endlosschleife oder das erste Mal hält.“ Die Bühne im Theaterschiff passt gut zu der antiken Mythologie des Stoffes. „Vielleicht fährt Ismene auf dem Boot von Charon auf dem Fluss Styx – so genau wissen wir das aber noch nicht.“

Die Schauspielerin Alina Wolff verkörpert Ismene bereits in Bettina Jahnkes Inszenierung von „Antigone“. Hier kann sie dieser Figur nun einen größeren Raum geben. Wo sie sich wann auf der Bühne bewegen wird und welche Requisiten sie benötigt, hält Anna Hercher übrigens selbst im Regiebuch fest – bei „Ismene, Schwester von“ arbeitet sie ohne Assistenz. „Das geht hier aber gut, da ich die Abläufe und wichtigen Anlaufstellen alle kenne.“

Sarah Kugler

Erschienen in: ZUGABE 05-2023

WEITERFÜHRENDE LINKS

Ismene nimmt in der Tragödie „Antigone“ nur eine kleine Rolle ein. Wer mehr über sie erfahren möchte, wird hier fündig.
Auch die Bestsellerautorin Natalie Haynes befasst sich in ihrem Roman mit dem Mythos um Ödipus und Antigone aus der Perspektive zweier übersehener Frauenfiguren: Iokaste und Ismene.
Wer eine kleine Einführung in den antiken Stoff benötigt, dem sei die humorvolle Playmobil-Einführung „Antigone to go“ empfohlen: